Erschien 2001 im spanischen Original „La sombra del viento“ bei Editorial Planeta | deutsche Übersetzung von Peter Schwaar hier vorliegend in der Fischer Taschenbibliothek mit 774 Seiten
Meine Aufmerksamkeit und das Verlangen etwas mir Unbekanntes zu erkunden, werden durch mir nebelhaft erscheinende Motivationen ausgelöst. Ich versuche an dieser Stelle, etwas Licht in diesen Schattenbereich zu werfen und eine kleine Phänomenologie meines Interesses an Carlos Ruiz Zafón aufzustellen.
Wie jeder halbwegs interessierte Buchleser, war mir der Name Zafón in irgendeiner fast unbewussten Art und Weise bewusst, denn der Katalane, der in spanischer Sprache schrieb,[1] schaffte es in den 2000er Jahren zahlreiche Beststeller zu veröffentlichen. Eine hohe Position in den Beststellerlisten zu erklimmen, reicht natürlich nicht, meinen Mantel der Ignoranz zu lüften. Aber vor gar nicht langer Zeit las ich einige Zeilen, über das mir unbekannte Schloss Wiepersdorf in Brandenburg. Wiepersdorf ist ein ganz besonderer Platz für die Geschichte der Künste in Deutschland. Nicht nur war es der Wohnort des berühmten Dichterpaares der Romantik, Bettina[2] und Achim von Arnim, es ist gleichzeitig ein Anziehungspunkt zahlreicher schreibender Künstler. Carlos Ruiz Zafón beispielsweise war Anfang der 2000er Jahre Stipendiat im Künstlerhaus auf Schloss Wiepersdorf, gerade zu jener Zeit als sein Roman „Der Schatten des Windes“ immer mehr an Aufmerksamkeit erlangte.[3] Das reichte mir aus, um nach dem Roman zu greifen. Ein Besuch des Schlosses wird dieses Jahr noch folgen.
Daniel Sempere ist der erst 10-jährige Sohn eines Buchhändlers, welcher sich nicht mehr an seine Mutter erinnern kann, weil diese schon vor einigen Jahren starb. Sein Vater nimmt ihn daraufhin an einen geheimen Ort mit, dem „Friedhof der Vergessenen Bücher“. Dort findet Daniel einen faszinierenden Roman von Julián Carax, den Daniel verschlingt. Wie sich bald herausstellt, ist es eines der wenigen überhaupt verbliebenen Buch-Exemplare des Autors Carax, der selbst zahlreiche Rätsel hinterlässt. Warum gibt es nur noch so wenige Ausgaben, wer war dieser geheimnisvolle Carax und was haben diese Bücher mit der Gegenwart zu tun, dass recht düstere Spanien rund eine Dekade nach dem spanischen Bürgerkrieg.
„Der Schatten des Windes“ spielt in einer Zeit von 1945 bis 1966, wobei größtenteils die Jahre 45 bis 1956 eine Rolle spielen, es aber auch immer wieder Rückblicke in die Zeit des Bürgerkrieges bis in die 20er Jahre gibt. Diese Zeitschichten teilen sich in zwei grundsätzliche Ebenen, die sich immer weiter miteinander vernetzen und den Roman strukturieren. Das ist zum einen das Erwachsenwerden von Daniel Sempere und zum anderen das Schicksal von Julián Carax und seiner Bücher. Das Ganze ist geschrieben in einem Stil, den Elke Heidenreich „einen wunderbaren Schmöker“[4] nennt und ich darf das als eine sehr treffende Beurteilung bezeichnen, denn wir haben hier einen Schmöker, so wie ich ihn mir vorstelle; eine flüssig erzählte Geschichte mit einer nie unterkomplex, aber nie zu ausführlichen Handlung; wir haben einen Gut gegen Böse, wir haben Liebesgeschichten und das alles auf über 750 Seiten, die man wie im Fluge verschlingt. Das ist kein Roman der neue Maßstäbe in der Weltliteratur setzt, aber ein sehr schönes Buch über Barcelona, eine teilweise sehr graue Zeit der spanischen Geschichte, über die Faszination von Büchern[5] und die Frage wie uns diese verbinden, über das Erwachsen-Werden und natürlich auch über die Liebe des Lebens. Auch wenn das Ende des Buches dann doch ein bisschen sehr „Hollywood“ ist, kann man den „Schatten des Windes“ als gelungene Unterhaltung mit Tiefgang bezeichnen.
[1] Leider muss hier das Präteritum gewählt werden, denn Zafón starb bereits 2020 nach langer Krankheit im Alter von nur 55 Jahren.
[2] Kenner deutscher Banknoten werden sicherlich wissen, dass Bettina von Arnim auf dem 5 DM Schein abgebildet war, im Hintergrund mit dem Gut Wiepersdorf!
[3] An dieser Stelle nur einige spannende Informationen über das Buch. Es stand in Spanien drei Jahre (!) auf den Bestsellerlisten und in Deutschland immerhin zwei Wochen auf Platz 1, es wurde in 36 Sprachen übersetzt und über 15 Millionen Mal verkauft!
[4] Laut des Buchrückens
[5] Was ich sehr gelungen finde, ist Zafóns Darstellung des Buches im Buch „Der Schatten des Windes“ von Carax, mit welchem Daniel seine Faszination für Roman und Autor beginnt. Wir erfahren über den Inhalt des Romans nämlich so gut wie nichts! Ich finde das deshalb gelungen, weil die Faszination eines Buches für einen Leser immer individuell offen und anders sein kann. Es gibt keinen festgelegten Wertekanon, was das beste Buch der Welt ist, diesen gibt es nur für den individuellen Leser (und selbst das ist zumeist ein recht dynamisches Unterfangen). Deshalb spielt es keine Rolle, was im Roman von Carax passiert, wichtig ist nur, dass das Buch Daniel fasziniert.