Nikolaj Gogol – Der Mantel, Die Nase

„Tsonduko“ ist ein japanisches Wort, welches einen Sachverhalt darstellt, den Sie – geneigter Leser – vielleicht auch kennen und der bei mir in den letzten Jahren quasi zu einem Problem wurde. Tsunduko beschreibt den Vorgang des Erwerbes von Büchern, ohne dass diese dann zu Hause auch gelesen werden und sich quasi unberührt stapeln. Im Zuge des Jahreswechsels habe ich mir zwei Aufgaben für das Jahr 2022 gestellt und eine davon war meinen Tsoduko-Stapel kleiner werden zu lassen, oder um es anders zu formulieren, mehr Bücher zu lesen, als zu kaufen.
Selbstverständlich führe ich darüber Buch! Jetzt zeigte mir die Buchführung, dass ich gar nicht mal so viel lese, wie ich dachte, was auch daran liegen könnte das die meisten Bücher, die ich in diesem Jahr zur Hand nahm, ziemlich lange Texte waren. Um meinen Tsonduko Stapel[1] nachhaltig zu verkleinern, empfahl es sich zu etwas dünneren Ausgaben zu wechseln. Und da war das kleine Reclam-Bändchen mit zwei Kurzgeschichten von Nikolaj Gogol mir gerade recht.
Erworben wurde es anlässlich der wirklich guten Ausstellung zu romantischer Kunst zwischen Moskau und Dresden, welche im letzten Jahr in den Kunstsammlungen zu bestaunen war und erst da, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, entdeckte ich Gogol für mich, einen der wichtigsten Vertreter russischer Literatur, nicht nur des 19. Jahrhunderts. „Nikolaj Gogol – Der Mantel, Die Nase“ weiterlesen

T.C. Boyle – Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte

Im Juli habe ich an dieser Stelle vom ungeschriebenen Gesetz geschrieben, zwei T.C. Boyle Romane pro Jahr zu lesen. In jenen Tagen war mir nicht bewusst, dass ich noch auf einen Bücherwühltisch treffen würde und ich muss gestehen, es gibt nicht viele Sachen in der weiten Welt des Konsums, die mich mehr affizieren, als gute Bücher aus den Tiefen eines Wühltisches zu angeln. Dort fand ich „Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte“, einen Erzählband des US-Amerikaners, der mit „die besten Stories“ untertitelt war, also so etwas, was man übersetzt auf den Musikmarkt mit „Best Of“ bezeichnen könnte, daher eine Sammlung von Kurzgeschichten, die als solche in jeweils in getrennten Bänden erschienen. So gesehen, bleibt es vorerst bei der Regel zwei Romane von Boyle pro Jahr zu lesen (denn Erzählungen sind eben keine Romane), gleichzeitig habe ich aber das Vergnügen, einen Eindruck von Boyles Short Stories gewonnen zu haben. „T.C. Boyle – Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte“ weiterlesen

Judith Hermann – Lettipark

Judith Hermans Erzählungen sind schon vor über zwei Jahren auf meinem Lese-Sofa in Form von „Sommerhaus, später“ gelandet und in guter Erinnerung geblieben. Ich war sehr froh, mir nun mal „Lettipark“ ausleihen zu können, mit 17 tatsächlich allesamt ziemlich kurzen Geschichten. „Judith Hermann – Lettipark“ weiterlesen

Ferdinand von Schirach – Kaffee und Zigaretten

Weder Kaffee und noch weniger Zigaretten gehören zu Genussmitteln, die meinen Appetit in irgendeiner Weise anregen. Es ist aber ein großes Glück das Ferdinand von Schirachs neueste Veröffentlichung keine Betrachtung der Vor- oder Nachteile von oben genannten Stoffen ist, sondern eine Sammlung von kurzen autobiographischen Erzählungen, Beobachtungen, Statements und Notizen, die in 48 Beiträgen gesammelt sind. „Ferdinand von Schirach – Kaffee und Zigaretten“ weiterlesen

Philip Roth – Goodbye, Columbus

Philip Roth Frühwerk „Goodbye, Columbus“ aus dem Jahr 1958 besteht aus einem kurzen Roman und fünf weiteren Erzählungen, die sich alle um die Frage der jüdischen Identität in den USA drehen. Am eindrucksvollsten ist die Titelgeschichte, eine rund 170 Seiten lange Novelle, über die Liebe eines Sommers zwischen dem eher kleinbürgerlichen Juden Neil Klugman, der sich in Brenda verliebt, einer Tochter aus wohlhabendem und strenggläubigem jüdischem Hause. Obwohl Brendas Familie ihn schnell als neuen Freund akzeptiert, sind die moralischen Grenzen der Gesellschaft der 1950er Jahre für eine erste Liebe beherrschend für die beiden jungen Leute.  Die Geschichte dreht sich darum zwischen Traditionen, Assimilation und freiheitlichem Leben zu entscheiden und das macht diese Liebesgeschichte sehr lesenswert, obwohl ihre moralischen Bezugspunkte in den 1950er Jahren angesiedelt sind und heute eigentümlich wirken. „Philip Roth – Goodbye, Columbus“ weiterlesen

Raymond Carver – Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden

Als ich vor einigen Wochen Judith Herrmanns „Sommerhaus, später“ beendete, las ich im Nachgang davon, dass sie sich stark von Raymond Carver inspiriert fühlte, der als einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Shortstory des 20. Jahrhunderts gilt. Also sagte ich mir in einem Anfall von heimatlicher Herablassung, warum nicht mal das amerikanische Original lesen!
Die 17 Kurzgeschichten von „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ erschienen 1981 im Original. Tatsächlich ist eines der auffallendsten Merkmale der Geschichten ihre Kürze, beispielsweise erreicht die Story „Ruhe“ nur 5 Seiten. Dafür verantwortlich ist übrigens Carvers Verleger Gordon Lish, der die Geschichten nicht nur teilweise recht dramatisch (bis zu 50%) gekürzt haben soll, sondern sie auch stets auf das für die Erzählform typische offene Ende hin bearbeitet hat. Und so wird man als Leser stets in einen Handlungsrahmen geworfen, der sich wie ein impressionistisches Bild anfühlt, auf dem mit eher minimalen Mitteln ein kleiner Ausschnitt aus dem Alltag der Figuren erzählt wird. Niemals geht es um spektakuläre und komplex verwobene Handlungsstränge, sondern um die Einfachheit des Lebens, die aber immer wieder große Interpretationsspielräume ermöglicht, was dann wiederum an die Gemälde Hoppers erinnert. „Raymond Carver – Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ weiterlesen

Judith Hermann – Sommerhaus, später

Im Winter in Deutschland tendiert man je eher dazu, sich in sein gemütliches Lesesofa zurück zu ziehen und zu lesen. Dabei eignet sich ganz prima ruhige, vielleicht sogar etwas melancholische Literatur, während draußen der Schnee fallen sollte, es aber eigentlich nur regnet.
Judith Hermanns Durchbruch gelang ihr mit dem 1998 erschienen Erzählband „Sommerhaus, später“ und wurde mir als sehr lesenswerte Literatur beschrieben. Die neun Geschichten im Buch halten mehrere Merkmale zusammen. Sie alle haben einen ruhigen Ton, dessen Handlung sehr klar überschaubar ist, der aber auch recht großen interpretatorischen Spielraum lässt. „Judith Hermann – Sommerhaus, später“ weiterlesen

Ted Chiang – Arrival. Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes

Im Frühjahr dieses Jahres sah ich Denis Villeneuve’s Kinofilm „Arrival“, der auf einer Kurzgeschichte von Ted Chaing beruht. Die außergewöhnliche Science-Fiction Story erweckte mein Interesse an der Erzählung mit dem Titel „Geschichte deines Lebens“, welche hinter dem Drehbuch stand. Tatsächlich erschien diese Kurzgeschichte zusammen mit vier anderen unter dem Titel „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“, war aber bereits nicht mehr erhältlich, als ich den Kaufwunsch bei meinem Buchhändler vortrug. Nach einem halben Jahr warten auf die Neuauflage, bekam ich im Herbst ein Buch des Golkonda Verlages in die Hand gedrückt, das den eigentlichen Buchtitel zugunsten des Filmtitels zurückgestellt hat und nun mit der recht eigenartig anmutenden Aufschrift: „Arrival. Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ daherkommt. Das ändert aber günstiger Weise nichts am Text. „Ted Chiang – Arrival. Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ weiterlesen

David Foster Wallace – Vergessenheit

Am 12.9.2014 habe ich begonnen „Vergessenheit“ zu lesen. Das ist rein zufällig genau sechs Jahre nach dem freiwilligen Tod von David Foster Wallace (das ich an jenem grauen Nachmittag, an dem der Niesel die ohnehin schon trostlose Haltestelle am Bahnhof Mitte noch grauer und unangenehm feuchter machte und den Lesenden nur Schutz unter der Brücke gewährte, die letzten drei Erzählungen begann, die ich noch nicht von Ihm kannte, war tatsächlich nicht geplant. Ein Zufall, keine geplante Entscheidung, kein feierliches Beginnen an einem Jahrestag, einfach nur Zufall). Es ist das letzte belletristische Buch das mir von DFW blieb. Gestern habe ich es beendet. Es war großartig.

Anders als im Original „Oblivion“, ist der Erzählband im Deutschen in zwei Ausgaben erschienen, zum einen in „In aller Vertrautheit“ und zum anderen in „Vergessenheit“. Dieser Band hat nur drei Geschichten, doch die haben es in sich. War die ein oder anderen Story von „In aller Vertrautheit“ noch manchmal etwas kompliziert zu lesen, sind jene durchgängig und problemlos für den Leser aufnehmbar, auch wenn das ein oder andere Fremdwort von DFW immer eingestreut wird, aber dadurch wird man allenfalls klüger. „David Foster Wallace – Vergessenheit“ weiterlesen

Stefan Zweig – Schachnovelle

Schach übt eine gewisse Faszination aus. Es ist eines der ganz wenigen Spiele, die den Zufall ausschließen und die Spieler nur Kraft ihrer Überlegungen gewinnen lassen. Nach der Lektüre von Glavinics „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ bin ich ein wenig beim Thema hängen geblieben und nahm mir Stefan Zweigs „Schachnovelle“ zur Hand. Immerhin das meistverkaufte Werk des Wiener Schriftstellers. „Stefan Zweig – Schachnovelle“ weiterlesen