our pathetic age

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Als ich das erste Mal DJ Shadows 2019er Album „our pathetic age“ sah, wusste ich sofort, dass zumindest der Titel des Albums eine wundervolle Beschreibung unserer heutigen Zeit ist.

– our pathetic age –

„Pathetic“ (nicht so sehr das deutsche Wort „pathetisch“, bei dem bedeutungstechnisch zu sehr „übertrieben feierlich“ mitschwingt) als mehr das englische Original, was als „jämmerlich“, „erbärmlich“ oder „kläglich“ übersetzt werden kann, ist tatsächlich ein sowohl ironisch verstärkter, als auch kritischer Ausdruck unserer Zeit, unseres Gefühls für die Gegenwart in der wir leben, die den großen Zweifel, den wir scheinbar in irgendeiner Art und Weise mit unserem Jetzt (unabhängig, aber vielleicht sogar verstärkt von der Viruskrise) haben, ganz passend wiederspiegelt.

Aber es ist nicht nur das Gefühl des „discomfort“ (wie Jonathan Franzen vielleicht sagen würde, allerdings in einem persönlichen, nicht in einem gesellschaftlichen Zusammenhang in „The Discomfort Zone“), sondern eigentlich auch, die ziemliche Unklarheit, was gerade mit uns, mit den Menschen, mit der Welt, dem Planeten geschieht. Unsere Gegenwart scheint ebenso kompliziert, wie unverständlich zu sein (wobei das vielleicht auf so viele Gegenwarten der Menschheitsgeschichte zutraf, wenn man sie aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwarten betrachtet) und es ist ein eher jämmerliches und vielleicht auch klägliches Gefühl, nicht zu wissen, wie man das was ist, auf den Punkt bringen könnte.
Es gehört unbedingt ebenso in unsere Zeit, dass ich erst nach der Bewunderung für diesen – für mein Verständnis grandios gewählten – Albumtitel, tatsächlich auch das Lied „Our Pathetic Age“ anhörte, oder um es andersherum zu formulieren, die Überschrift hat meine Fantasie eigentlich schon ausreichend animiert und der folgende Song ist dann eher Untermalung dieser:

Jetzt wäre unsere Gegenwart nicht unsere Gegenwart, wenn sie nicht die vorgefertigte Erwartung radikal enttäuschte und gleichzeitig einen neuen Weg vorschlagen würde. Wie Sie sicherlich schnell bemerkt haben, singt die einzigartige Stimme des „Future Island“ Sängers Samuel T. Herring in diesem Lied zumindest nicht vordergründig über die Tücken unseres Zeitalters, sondern über die Tücken des Lebens, oder vielleicht noch besser gesagt, des Lebensalters und dabei fällt auch mir wieder auf, dass mein Leben nicht mehr die inbrünstige Tonalität einer Säuglingsstation hat, sondern eher dem ständigen Ausrollen einer Frischhaltefolie gleicht. Doch das ist nur die Oberfläche des Älterwerdens. Seine Essenz ist wohl eher die Ansammlung von Erfahrungen und Erlebnissen. Auf den Song bezogen, könnte man den Liedzeilen entnehmen, heißt Leben dann auch Niederlagen und Verluste hinzunehmen, aber es gebietet auch eins; aufzustehen, zu lernen und weiterzuleben:

Come to life
Come to life, come to life
All the leaves are golden in the dark
Come to life
Come to life, come to life

It’s time
Time to raise the ashes from the heat
I’ve been blind
Open my eyes for the first time this year“

„Our pathetic age“ ist ein Song, der antreibt, der nach dem Moment des Stillstandes, nach der Reflektion was passierte, an ein Aufwachen, ein Bewusstwerden, ein Sehen der Welt appelliert. Leben bedeutet nicht nur Erleben, sondern auch Entdecken und Lernen.

Und auch wenn das was ich hier gerade geschrieben habe, ein ziemlicher interpretatorischer Kreisel ist, in welchem man eine Überschrift liest, daraus eine Idee entwickelt (die man vielleicht durch einhundert andere ähnliche Ideen schon irgendwie im Kopf hatte), dann den eigentlichen Text versteht, der mit der Idee der Überschrift nicht unbedingt korrespondiert und trotzdem denkt, ach egal, die Idee war gut, das fügt sich schon; so möchte ich mit „our pathetic age“ eine neue Kategorie auf tommr.de einführen. Sie soll auf die Frage, in was für einer Zeit wir leben, Antworten suchen.

Was macht unsere Gegenwart aus, was beschreibt sie, was ist sie gerade und was ist sie nicht (mehr)? Jeder Text, jeder Film oder jede Serie, die in diesem Blog besprochen werden und die etwas zu diesem Thema aussagen können, sollen in Zukunft hier gelistet werden, um ein Panorama unserer Gegenwart zu zeichnen. Das soll natürlich ein ständiger „work in progress“ sein, wo nur der Startpunkt klar ist, aber Inhalte und Strukturen sich erst schärfen werden, nur um dann wieder verändert werden zu können, einzig ein Aspekt soll immer im Mittelpunkt stehen, das Öffnen der Augen, um zu versuchen, etwas mehr zu erfahren über den kurzen Moment, den wir hier zusammen auf der Welt verbringen.

Beiträge

Soziologie:
Heinz Bude: „Das Gefühl der Welt“; der Versuch einer Bestandsaufnahme von gesellschaftlichen Stimmungen
Andreas Reckwitz: „Die Gesellschaft der Singularitäten“; eine Gesellschaftsanalyse, die herausarbeitet, dass das Besondere, das Allgemeine in unserer spätmodernen Gesellschaft ablöst.
Hartumt Rosa: „Resonanz“; eine Gesellschaftstheorie, deren zentrale Elemente Resonanz vs. Entfremdung, eine kritische Kommunikationsstruktur der Moderne aufdecken

Wirtschaft:
Adam Tooze: „Crashed“; eine sehr tiefe und fundierte Analyse der politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit von 2000 bis ca. 2016 mit dem Schwerpunkt Finanzkrise ab 2008
Thomas Piketty: „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“; eine kurze Untersuchung über wirtschaftliche Ungleichheit und ein politisches Manifest über dessen Überwindung

Geopolitik:
Frank Sieren – Zukunft? China!; ein Text über die wachsende wirtschaftliche und politische Rolle Chinas in der Welt

Literatur:
Ingo Schulze: „Die rechtschaffenden Mörder; ein Roman, der sich nicht nur mit dem Rechtsdrift eines Teils der ostdeutschen-bürgerlichen Gesellschaft befasst, sondern auch die Rolle des geschriebenen Textes selbst hinterfragt.
Jonathan Lethem: „Chronic City“; ein Roman, der über die zunehmende Verwebung von Fiktion und Wahrheit erzählt in einer fast schon dystopischen New Yorker Winterlandschaft.

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