Alice Munro – Tricks

Originaltitel: „Runaway“ | erschien 2004 | deutsche Übersetzung von Heidi Zernig 2006 bei S.Fischer | hier vorliegend als Fischer Taschenbibliothek mit 528 Seiten

Seit ich im Frühjahr „Liebes Leben“ von Alice Munro gelesen habe, war mein Wunsch, die Texte der kanadischen Nobelpreisträgerin, weiter kennen zu lernen, sehr groß. Deshalb bestellte ich mir „Tricks“, in der praktischen Hosentaschenbuchausgabe des Fischer Verlages zum überall mit Hinnehmen und Lesen.[1]

Die acht Erzählungen dieses Bandes beginnen mit „Ausreißer“ der Geschichte einer in Trümmern liegenden Beziehung und der Möglichkeit einer Ausflucht aus diesen. Der Clou der Geschichte ist aber die Frage nach der emotionalen Richtigkeit der Entscheidung. In der englischen Originalausgabe ist diese Geschichte titelgebend für den Erzählband, in der deutschen Übersetzung nicht, was ich zwar nicht verstehe, dem Band aber keinen Abbruch tut, denn die Geschichte „Tricks“, auf die ich später noch kommen werde, finde ich sogar noch ein klein wenig besser.
Die Erzählungen zwei, drei und vier stellen die Person Juliet in den Vordergrund der Handlung, wobei ich besonders auf die letzte „Juliet“-Story eingehen möchte.
„Schweigen“ allein ist ein kleines Meisterwerk. Wie bei den beiden Stories vorher, begleiten wir hier Juliet, die ihre mittlerweile erwachsene Tochter Penelope in einem spirituellen Erwachenszentrum besuchen möchte. Juliet hat Penelope seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, so lang wie nie in ihrer beider Leben. Sie freut sich sehr auf das Wiedersehen und ist etwas ängstlich wegen der möglichen Veränderungen, welche die Zeit des Nicht-Sehens mit sich bringen könnte. Munrow entwirft auf 52 Seiten eine Biographie von Juliet, die wir schon aus den beiden vorherigen Geschichten teilweise kennen und so einzelne Details wiederfinden, um so das Puzzle, dass die Geschichte eines Menschen ausmacht, weiter zusammensetzen zu können, nur das wir hier weit in die Zukunft hineinschauen werden. Der Fokus von „Schweigen“ wird auf den Zustand des „Nicht-mehr-da-Seins eines geliebten Menschen“ gelegt, welcher Juliet zweimal im Leben ereilt. Die beiden wichtigsten Personen, die für sie existieren, verlassen Juliets Leben und wir sehen was aus diesen passiert. Dieser melancholische Text über das Umgehen mit dem Fehlen, dem Vermissen und dem Allein-Gelassen-Sein hat eine eigene Wucht. Munro stellt dafür zwei sehr unterschiedlichen Sujets gegenüber, den Tod und den Kontaktabbruch. Das macht „Schweigen“ zu einem großartigen Text über die Souveränität Entscheidungen anderer zu akzeptieren, zeigt aber auch die Konsequenzen im Leben und die tiefe innerlicher Trauer darüber.[2]
Alle drei Geschichten zusammen wurden übrigens von Pedro Almodovar als Inspiration für seinen Film „Julieta“ genommen, der damit auf meiner Filmliste aufgenommen wurde. „Alice Munro – Tricks“ weiterlesen

Alice Munrow – Liebes Leben

aus der Reihe: aus fremden Regalen

veröffentlicht 2012 unter dem englischen Originaltitel: „Dear Life“| deutsche Übersetzung von Heidi Zernig erschien 2013 bei Fischer | hier gelesen in der Taschenbuchausgabe mit 368 Seiten

Alice Munros Erzählband „Liebes Leben“ lag nun schon seit Jahren bei meiner Mutter im Regal, neu und ungelesen, einst von meiner Schwester geschenkt. Also mopste ich mir das Buch, um die kanadische Literaturnobelpreisträgerin von 2012 für mich zu entdecken. Das war kein schlechter Diebstahl, obwohl es eigentlich kein Diebstahl war, denn ich werde das Buch meiner Mutter sofort zurückgeben, allerdings unter der Begleitbemerkungen, dass diese Erzählungen wunderbare Literatur sind und unter dem optischen Eindruck, dass das Buch jetzt schon durchgelesen aussieht.
Bei „Liebes Leben“ sollte man vielleicht den Titel des Buches spezifizieren, denn es geht nicht um irgendwelche Liebesleben, sondern um die Anrede an das Leben im Allgemeinen, so wie wenn man einen Brief an das Leben schreiben würde.[1]

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Nikolaj Gogol – Der Mantel, Die Nase

„Tsonduko“ ist ein japanisches Wort, welches einen Sachverhalt darstellt, den Sie – geneigter Leser – vielleicht auch kennen und der bei mir in den letzten Jahren quasi zu einem Problem wurde. Tsunduko beschreibt den Vorgang des Erwerbes von Büchern, ohne dass diese dann zu Hause auch gelesen werden und sich quasi unberührt stapeln. Im Zuge des Jahreswechsels habe ich mir zwei Aufgaben für das Jahr 2022 gestellt und eine davon war meinen Tsoduko-Stapel kleiner werden zu lassen, oder um es anders zu formulieren, mehr Bücher zu lesen, als zu kaufen.
Selbstverständlich führe ich darüber Buch! Jetzt zeigte mir die Buchführung, dass ich gar nicht mal so viel lese, wie ich dachte, was auch daran liegen könnte das die meisten Bücher, die ich in diesem Jahr zur Hand nahm, ziemlich lange Texte waren. Um meinen Tsonduko Stapel[1] nachhaltig zu verkleinern, empfahl es sich zu etwas dünneren Ausgaben zu wechseln. Und da war das kleine Reclam-Bändchen mit zwei Kurzgeschichten von Nikolaj Gogol mir gerade recht.
Erworben wurde es anlässlich der wirklich guten Ausstellung zu romantischer Kunst zwischen Moskau und Dresden, welche im letzten Jahr in den Kunstsammlungen zu bestaunen war und erst da, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, entdeckte ich Gogol für mich, einen der wichtigsten Vertreter russischer Literatur, nicht nur des 19. Jahrhunderts. „Nikolaj Gogol – Der Mantel, Die Nase“ weiterlesen

T.C. Boyle – Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte

Im Juli habe ich an dieser Stelle vom ungeschriebenen Gesetz geschrieben, zwei T.C. Boyle Romane pro Jahr zu lesen. In jenen Tagen war mir nicht bewusst, dass ich noch auf einen Bücherwühltisch treffen würde und ich muss gestehen, es gibt nicht viele Sachen in der weiten Welt des Konsums, die mich mehr affizieren, als gute Bücher aus den Tiefen eines Wühltisches zu angeln. Dort fand ich „Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte“, einen Erzählband des US-Amerikaners, der mit „die besten Stories“ untertitelt war, also so etwas, was man übersetzt auf den Musikmarkt mit „Best Of“ bezeichnen könnte, daher eine Sammlung von Kurzgeschichten, die als solche in jeweils in getrennten Bänden erschienen. So gesehen, bleibt es vorerst bei der Regel zwei Romane von Boyle pro Jahr zu lesen (denn Erzählungen sind eben keine Romane), gleichzeitig habe ich aber das Vergnügen, einen Eindruck von Boyles Short Stories gewonnen zu haben. „T.C. Boyle – Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte“ weiterlesen

Judith Hermann – Lettipark

Judith Hermans Erzählungen sind schon vor über zwei Jahren auf meinem Lese-Sofa in Form von „Sommerhaus, später“ gelandet und in guter Erinnerung geblieben. Ich war sehr froh, mir nun mal „Lettipark“ ausleihen zu können, mit 17 tatsächlich allesamt ziemlich kurzen Geschichten. „Judith Hermann – Lettipark“ weiterlesen

Ferdinand von Schirach – Kaffee und Zigaretten

Weder Kaffee und noch weniger Zigaretten gehören zu Genussmitteln, die meinen Appetit in irgendeiner Weise anregen. Es ist aber ein großes Glück das Ferdinand von Schirachs neueste Veröffentlichung keine Betrachtung der Vor- oder Nachteile von oben genannten Stoffen ist, sondern eine Sammlung von kurzen autobiographischen Erzählungen, Beobachtungen, Statements und Notizen, die in 48 Beiträgen gesammelt sind. „Ferdinand von Schirach – Kaffee und Zigaretten“ weiterlesen

Philip Roth – Goodbye, Columbus

Philip Roth Frühwerk „Goodbye, Columbus“ aus dem Jahr 1958 besteht aus einem kurzen Roman und fünf weiteren Erzählungen, die sich alle um die Frage der jüdischen Identität in den USA drehen. Am eindrucksvollsten ist die Titelgeschichte, eine rund 170 Seiten lange Novelle, über die Liebe eines Sommers zwischen dem eher kleinbürgerlichen Juden Neil Klugman, der sich in Brenda verliebt, einer Tochter aus wohlhabendem und strenggläubigem jüdischem Hause. Obwohl Brendas Familie ihn schnell als neuen Freund akzeptiert, sind die moralischen Grenzen der Gesellschaft der 1950er Jahre für eine erste Liebe beherrschend für die beiden jungen Leute.  Die Geschichte dreht sich darum zwischen Traditionen, Assimilation und freiheitlichem Leben zu entscheiden und das macht diese Liebesgeschichte sehr lesenswert, obwohl ihre moralischen Bezugspunkte in den 1950er Jahren angesiedelt sind und heute eigentümlich wirken. „Philip Roth – Goodbye, Columbus“ weiterlesen

Judith Hermann – Sommerhaus, später

Im Winter in Deutschland tendiert man je eher dazu, sich in sein gemütliches Lesesofa zurück zu ziehen und zu lesen. Dabei eignet sich ganz prima ruhige, vielleicht sogar etwas melancholische Literatur, während draußen der Schnee fallen sollte, es aber eigentlich nur regnet.
Judith Hermanns Durchbruch gelang ihr mit dem 1998 erschienen Erzählband „Sommerhaus, später“ und wurde mir als sehr lesenswerte Literatur beschrieben. Die neun Geschichten im Buch halten mehrere Merkmale zusammen. Sie alle haben einen ruhigen Ton, dessen Handlung sehr klar überschaubar ist, der aber auch recht großen interpretatorischen Spielraum lässt. „Judith Hermann – Sommerhaus, später“ weiterlesen

Ted Chiang – Arrival. Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes

Im Frühjahr dieses Jahres sah ich Denis Villeneuve’s Kinofilm „Arrival“, der auf einer Kurzgeschichte von Ted Chaing beruht. Die außergewöhnliche Science-Fiction Story erweckte mein Interesse an der Erzählung mit dem Titel „Geschichte deines Lebens“, welche hinter dem Drehbuch stand. Tatsächlich erschien diese Kurzgeschichte zusammen mit vier anderen unter dem Titel „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“, war aber bereits nicht mehr erhältlich, als ich den Kaufwunsch bei meinem Buchhändler vortrug. Nach einem halben Jahr warten auf die Neuauflage, bekam ich im Herbst ein Buch des Golkonda Verlages in die Hand gedrückt, das den eigentlichen Buchtitel zugunsten des Filmtitels zurückgestellt hat und nun mit der recht eigenartig anmutenden Aufschrift: „Arrival. Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ daherkommt. Das ändert aber günstiger Weise nichts am Text. „Ted Chiang – Arrival. Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ weiterlesen

Peter Stamm – Wir fliegen

Peter Stamm ist der erste Schriftsteller, den ich erst bei einer Lesung kennen lernte und der mich dann gleich so beeindruckte, dass ich ein Buch von ihm erwarb. Bei der Frankfurter Buchmesse – sie wissen schon, das Ereignis was meinen Kinokonsum minimierte und dafür meine Leseliste anschwellen ließ – gibt es die schöne Veranstaltungsreihe namens „Open Books“, bei der Autoren aus Ihren neuesten Werken lesen. Bei Peter Stamm war ich sofort von seiner Sprache begeistert, der Klarheit seiner Sätze, die nie umständlich wirken und dem Leser trotzdem genügend Raum für die eigene Fantasie lassen.

Mein erstes Buch von ihm war aber nicht ein Roman, schon gar nicht sein Neuster „Nacht ist der Tag“, dessen Story mir irgendwie langweilig erscheint, auch wenn ich die Begeisterung paradoxerweise über Peter Stamm, eben aus jenen vorgelesenen 10min der Lesung (die Lesung funktioniert nach folgendem Prinzip, 8 Autoren haben je 15min Zeit, 5min plaudert ein Moderator mit ihm und 10min wird aus dem Buch vorgelesen) gezogen habe. Ich entschied mich für „Wir fliegen“, 12 Erzählungen, veröffentlicht 2008, wobei diese Angabe vollkommen unerheblich ist, denn Stamms Erzählungen sind eher zeitlos, sie könnten heute genauso gut spielen, wie vor 20 oder 100 Jahren. In jeder der Erzählungen werden wir zumeist in Alltagssituationen der Protagonisten geworfen. Jedoch ist keine Geschichte schlichte Wiedergabe des tagtäglichen Lebens, sondern immer etwas Besonderes, ein Ausschnitt aus dem großen Spektrum des Daseins. „Peter Stamm – Wir fliegen“ weiterlesen