Peter Richter – 89/90

Ein sonniger Tag im Herbst 1989. Ein Freund steht vor meiner Tür und fragt ob ich mit in den Fichtepark spielen komme. Ich bin 11 Jahre alt und gebe eher informativ als fragend meiner Mutter meine Absichten bekannt. Und es passiert etwas, was mir bis zu jenem Moment noch nie passiert war, meine Mutter zögert mir zu erlauben, in den Fichtepark zu gehen. Schließlich lässt sie mich doch gehen, betont aber ihr sonst ebenso ausgesprochen, aber zunehmend eher ritualisiertes „Vorsichtig sein“. Irgendetwas musste nicht stimmen und ich hatte keine Ahnung was, jedenfalls war im Fichtepark und dem angrenzenden Spielplatz noch alles beim Alten. Trotzdem hatte sich in mir ein Verdacht eingenistet, irgendetwas geht hier vor sich.

Es sollte sehr viel vor sich gehen, im Herbst 1989 und meine Mutter wusste viel besser als ich das die Stimmung in der Stadt, nein im ganzen Land sich aufgeheizt hatte. Bis zu jenem Moment war ich ein kleines Kind, dass im System gut aufgehoben war und vieles nicht verstand. Erst mit der nun einsetzenden Wende veränderte sich auch mein Blick auf die Welt und Politik wurde erstmals etwas real erfahrbares, weil scheinbar jeder Tag politisch wurde. Die Ereignisse die im Herbst 1989 ihren Lauf nahmen waren also nicht nur weltgeschichtlich von etwas Interesse, sondern sind es auch persönlich für mich geworden.
Genau diese Wendezeit in Dresden beschreibt Peter Richter in seinem Roman „89/90“ ebenfalls, nur war er schon 16, als der Herbst anbrach. Lediglich fünf Jahre älter als ich! Was allerdings fast Generationen der Welterfahrung sind, wenn diese fünf Jahre zwischen 16 und 11 liegen.

„89/90“ ist ein stark von autobiographischen Quellen gespeistes Werk, obwohl betont wird dass alle Charaktere, außer zeitgeschichtlichen Figuren, reine Fiktion sind. Oben auf dem Weißen Hirsch, der damals, wie heute schon besten Gegend der Stadt, verlebt der junge Ich-Erzähler den Sommer 1989, getragen von der Ablehnung und der Unzufriedenheit vom System der DDR. Das scheint der gemeinsame Aufhänger aller Jugendlichen zu sein, die Verdrossenheit aufs eigene Land und es zeigen sich langsame Ausprägungen, was für innere Gegenreaktionen die Jugendlichen einnehmen. Dann kam die Wende und mit ihr das Ende der Einheitlichkeit des gemeinsamen „So nicht“ und der vermeintliche Beginn der Vielfalt. Doch schnell wird klar, dass sich zwei Gruppen von Jugendlichen bilden; linke Alternative und rechte Nazis. Das sind die Pole der neuen Jugendordnung in einem Land, dass vor seiner Auflösung steht und in dem jede Art von Ordnung hinterfragt und oftmals hintergangen wird.

Persönlich musste ich bei der Lektüre feststellen, dass es etwas vollkommen Anderes ist, die Wende mit 11 oder mit 16 Jahren zu erleben. Die allermeisten Sachen die Richter beschreibt blieben in meiner Biographie fremd, wenngleich sich einige Erinnerungen auch bei mir einstellten, aber eben erst einige Jahre später, daher so Mitte der 1990er. So wie das Aufkommen von Nazi-Glatzen, die tatsächlich so etwas wie ein Angstszenario schufen. Aber wirklich Probleme hatte ich mit denen nie (ebenso wie ich nie Probleme mit Linksalternativen hatte). Auch war meine Welt nie in ein so starres Schema von links und rechts eingeteilt (obwohl mir eigentlich stets bewusst war, welche der beiden Seiten richtig lag), aber das soll hier nicht wichtig sein.

Vielmehr ist zu fragen, ob der Roman überzeugt. Die Geschichte eines Jungen, der durch die Wende zu einem Linksalternativen wird, in einer Stadt die zunehmend von Nazi-Glatzen heimgesucht wird, ist zweifellos ein interessanter Ansatz über die friedliche Revolution 1989/90 zu reden, die ja zumeist in einem ganz anderen Ton dargestellt wird. „89/90“ jedoch ist geschrieben aus einer leicht arrogant und moralisch überlegen geschriebenen Perspektive, nicht nur über die plumpem Rechten, sondern auch über ein im Buch so genannten Menschenschlag, der Schimmelmenschen. So richtig klar wird nicht was mit Schimmelmenschen gemeint ist (per Definition wären dies nur Träger einer bestimmten damals populären Jeanssorte) und Richter vereint in ihnen eher so etwas wie den einfach tickenden, das schnelle Glück suchenden und engstirnigen Menschen, dessen niveauarmer Kleidungsstil dem geistigen Niveau zu korrespondieren scheint (wie viel dies über die ebenso recht einfache Perspektive des Erzählers erhellt, sei nicht weiter erörtert). So präsentiert sich 89/90 ein wenig wie eine Ideengeschichte der kulturellen Veränderung der beschriebenen Jahre. Dabei kommt man nicht umhin festzustellen, das Buch will viel zu viel und versagt dabei ziemlich gnadenlos. Ich belasse es bei einigen Beispielen. Wichtige Charaktere im Buch werden nur mit dem ersten Buchstaben des Vornamens (?) benannt. Diese künstlerische Freiheit kann man sich natürlich gern nehmen, aber sie erscheint an dieser Stelle vollkommen sinnfrei. So wirkt es dann als wären diese Charaktere Opfer und würden in einem Polizeibericht vorkommen. Eine andere Erklärung wäre, dass eine Mehrzahl der Charaktere doch aus Richters Biographie stammen und er sie lieber nicht beim vollen Namen nennt, um den fiktionalen Aspekt seiner Geschichte zu unterreichen. Des Weiteren arbeitet Richter mit Fußnoten, was ich persönlich immer für eine gute Idee halte, aber auch hier kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Apparat nur des Apparates wegen angelegt wurde. Man bekommt das Gefühl die Fußnoten wurden eingeführt, um Hintergrundinformationen über die DDR auf ironisch-humoristische Art und Weise einzufügen, oder um es mal radikal-sächsisch zu sagen, um den Wessis zu zeigen, was bei uns so los war (ganz wie in den DDR-Kult Shows, der frühen 2000er Jahre die einen gewissen Freak-Show Anspruch gern wahrnahmen). Aber dabei bleibt der Fußnotenapparat fast schon stehen und man fragt sich; warum? Wieso werden nicht die zahlreichen Bands beschrieben, die man vielleicht in der Punksszene 1990 kannte, aber heute keine Rolle mehr spielen? Warum wird beschrieben was die NVA war (Anmerkung 28), aber nicht was Straight Edge ist? Das ist schade, weil es insbesondere auch Gelegenheit gegeben hätte, wenigstens ein wenig mehr über den sehr neblig gehaltenen Ich-Erzähler zu erfahren, der so häufig vollkommen rätselhaft bleibt. Nimmt man einmal hin, dass dieser 16-jährige in einer schwarz-weiß Welt von rechts gegen links lebt und es scheinbar nur noch um Kampf, Schutz, Abwehr, Gewalt und Erniedrigung des Gegners geht, und zieht man in Betracht, dass man als Teenager durchaus in einer komplexen Welt lebt, die dazu aufruft sich selbst zu finden, wobei man nicht weiß, was man überhaupt suchen soll. So gibt es doch immer wieder Passagen, die einen nur noch rätselnder zurücklassen, wie diese: „es blieb einem, so lächerlich das klingen mag, die Kunst. Es blieben einem die langen Nachmittage im Museum, die Abende im Konzert, im Theater und der Oper…“ (S.158). Das ist für einen 16-jährigen ein recht kulturvolles und -aus hochkultureller Perspektive- beneidenswertes Programm, das auf einem bildungsbürgerlichen Hintergrund schließen lässt. Nur erfährt man darüber auf den über 400 Seiten so gut wie gar nichts. Der Einfluss der Eltern und der Familie bleibt absolut unklar und wirkt wie ein kaum zu vernehmendes Hintergrundrauschen. Allein schon deshalb ist dies hineindriften in einen politischen Kampf wenig glaubhaft, zu wenig ist klar, was im Ich-Erzähler geschieht, vielmehr nur wird aneinandergereiht, welche Rechten auf einen einprügelten, auf welche eingeprügelt wurde, welche alternativen Kneipen aufmachten, welche Musik gehört wurde und wie man die erste D-Mark in Bulgarien in Saft umsetzte. Es ist die Geschichte eines linksautonomen Kämpfers, ohne zu erfahren warum er zu einem Kämpfer wurde (warum wurde er nicht ein Rechter? Warum blieb er nicht unpolitisch und hielt sich fein raus?)
Jeder der einen interessanten – und größtenteils kurzweiligen – subjektiven Bericht der Wendezeit lesen möchte, dem sei „89/90“ als „Augenzeugendokumentation“ ans Herz gelegt. Was man aber nicht bekommt ist ein anständiger Roman.

Schreibe einen Kommentar