Toni Erdmann

Das Leben besteht aus einer verschwommen hohen Anzahl an Momenten, die wir durchleben. Wir gleiten von einem Moment zum nächsten und wohin wir gleiten ist eine Frage des Lebensweges. Zwei scheinbar ganz unterschiedliche Lebenswege gehen Winfried Conradi (Peter Simonischek) und seine Tochter Ines (Sandra Hüller). Winfried lebt mit seinem Hund in der gut bürgerlichen Umgebung eines ehemaligen 68ers. Er ist Musiklehrer und seine Leidenschaft sind skurrile und nicht immer wirklich witzige Streiche, welcher er bevorzugt mit einem künstlichen Gebiss vorträgt. Seine Tochter ist eine Karrierefrau bei der Unternehmungsberatung Morrison. Sie lebt zurzeit in Bukarest und führt das arbeitsreiche Leben eines Expats, bei dem die berufliche Situation scheinbar den gesamten Tag bestimmt und auch einen wie auch noch so kleinen Freizeitbereich bestimmt. Da Winfrieds Hund gestorben ist und er wohl Angst hat etwas zu vereinsamen, reist er spontan nach Bukarest, um seine Tochter zu überraschen. Hier prallen die beiden Lebenswelten aufeinander.

Nach dem großartigen Beziehungsfilm „Alle anderen“ durchleuchtet Maren Ades dritter Spielfilm erneut eine Zweierbeziehung, diesmal jedoch aus ganz anderer Perspektive. Hier geht es nicht um die Frage, wie geben wir uns, wenn wir allein, zu zweit oder in Gesellschaft sind, sondern um die Frage, welche Lebensentwürfen wir nachhängen, was ein vernünftiges, gutes und bedeutsames Leben überhaupt ist und was Karriere bedeuten kann. Dabei bleibt „Toni Erdmann“ aber nicht auf der individuellen Sinnebene und seiner Entfaltungsmöglichkeiten heutzutage stehen, er ist – anders gesagt – nicht einfach nur ein Film der aufzeigt wie man sein Leben führen kann. „Toni Erdmann“ thematisiert gleichzeitig die Realitäten des heutigen Kapitalismus in (Ost-)Europa. Er beleuchtet neue von ihm eingeführten Machtkonstellationen und die zunehmend ansteigenden Unterschiede zwischen dem Großteil der Bevölkerung und einer wirtschaftlichen Elite. Vor einigen Jahren kam die Diskussionen um den Begriff der „Parallelgesellschaft“ auf, der in etwas eigenwilliger Art und Weise sich um Migrantenfamilien und ihrer Lebensweise in Deutschland beschäftigte. Eine mindestens ebenso klare Parallelgesellschaft sind die Expats, die in ihrer von wirtschaftlichen Rationalismen geleiteten Welt, keinerlei Kontakt mehr zur Lebenswelt der Mehrheit eines Landes mehr haben (und den Beschäftigten in den Firmen die sie leiten und dirigieren) und in einer anderen Logik leben, man kann schon sagen in einer anderen Kultur leben.
Maren Ades Film (sie schrieb wie bei allen Projekten, in welchen sie Regie führt, auch das Drehbuch)  beleuchtet diesen Alltag sehr eindrücklich, indem sehr präzise die Charaktere beleuchtet und bis auf die letzte Hülle dargestellt werden. Das ist natürlich nur mit hervorragen Schauspielern möglich und gerade das Duo Hüller – Simonischek ist brillant besetzt. Auch wenn der Film über zweieinhalb Stunden lang ist, sind die Längen sehr bewusst eingesetzt und verdichten eher die Atmosphäre als den Zuseher zu langweilen. Vollkommen zurecht gewann „Toni Erdmann“ eine ganze Reihe von Preisen (z.B. vier europäische Filmpreise, den Grand-Prix des FIPRESCI oder eine Nominierung für den Oscar) und sei an dieser Stelle wärmsten empfohlen.

Schreibe einen Kommentar