David Mitchell – Die Knochenuhren

Erschien 2014 mit dem Originaltitel: „The Bone Clocks“ | deutsche Übersetzung von Volker Oldenburg erschien 2016 bei Rowohlt | 812 Seiten

Am 19. Juli kam David Mitchells neuster und mittlerweile achter Roman „Utopia Avenue“ in die Buchläden und selbstverständlich wird eine Ausgabe davon schon bald auch in meinem Regal stehen. Doch vorher galt es für mich, dass letzte, bis dato nicht studierte Werk des Briten zu lesen, „Die Knochenuhren“, welches sich günstigerweise schon in meinem Regal befand.

„Die Knochenuhren“ ist ein ziemlich klassischer Mitchell- Roman, mit einem großen zeitlichen Panorama, welches sich von 1984 bis ins fiktive Jahr 2043 zieht und das pro Kapitel einen Ich-Erzähler berichten lässt. Der Roman beginnt mit Holly Sykes, die als 15-jährige 1984 von zu Hause wegläuft, um mit ihrem 24-jährigen Freund zusammen zu leben. Doch dieser betrügt sie mit ihrer besten Freundin. Holly – wütend auf ihre Mutter und verbittert über ihren Ex-Freund, zieht allein in die Welt hinaus, ohne einen Plan zu haben, sie will einfach nur weg, trifft aber auf ein paar interessante Gestalten. Im weiteren Verlauf des Romans (1991) lernen wir den Cambridge Studenten Hugo Lamb kennen, der nur eine Wahrheit kennt; seinen eigenen Vorteil. Doch dann passiert etwas noch nie Dagewesenes, er verliebt sich. Noch etwas später (2004) erzählt der Kriegsreporter Ed Brubank auf der Hochzeit seiner Schwägerin von seinen Erlebnissen im Irakkrieg. Bevor wir in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre Crispin Hershey kennenlernen, ein einstmals literarisches Wunderkind, dessen neuster Roman vom Kritiker Richard Cheeseman zerrissen wurde, was dem selbstherrlichen Hershey bitter mitnimmt.
Über die beiden weiteren Zeitebenen, möchte ich erst später sprechen, denn an dieser Stelle muss ein Spoiler-Alarm gesetzt werden. Über „die Knochenuhren“ kann man nicht wirklich schreiben, wenn man sich nicht etwas deutlicher mit seinem Handlungsverlauf auseinandersetzt, der auch weit hinten im Buch stattfindet. Deshalb kann man bis zum eben beschriebenen Punkt, wo wir bereits über die Hälfte des Romans gelesen haben, folgendes kurz sagen: diese rund 500 Seiten, gehören zu dem besten, was David Mitchell veröffentlichte. Wir lernen sehr intensiv, vier ganz gegensätzliche Charaktere kennen, die insbesondere bei Lamb und Hershey anfangs sehr unsympathisch daherkommen, die einen aber doch schnell ans Herz wachsen. Dabei baut Mitchell immer wieder kleine Fantasy Elemente ein, eine metaphysische Seelenwelt, die in die Realität der Erzähler hineinbricht. Das passiert aber alles im Hintergrund und läuft am Rande mit, wobei es schon als verbindendes Element gesehen werden kann, neben der Figur von Holly Sykes, die ebenfalls auch immer präsent ist und die im letzten Kapitel nochmals als Ich-Erzählerin fungiert.
Mit dem 5.Kapitel ändert sich das Geschehen, welches dann bereits in der (2014 noch etwas weiterweg liegenden) Zukunft liegt. Hier wird eine Metaphysische-Fantasy- Seelen-Welt zum Hauptthema und damit verliert der Roman für meine Begriffe etwas, denn obwohl ich die Fantasy-Geschichte durchaus spannend und an vielen Stellen wundervoll geschrieben empfinde, verlässt mich hier das Gefühl sich irgendwie mit dem Ich-Erzähler identifizieren zu können, zu sehr „lebt“ dieser in seiner Fantasie-Welt. Leider wird dann das darauffolgende 6.Kapitel noch etwas schlechter, denn Mitchell baut für das Jahr 2043, eine seiner schon in anderen Werken bekannten, Dystopien ein (siehe „Chaos“ oder „Der Wolkenatlas“). Anders als bei den gerade erwähnten Werken ist dieses Mal die apokalyptische Welt der Zukunft jedoch eher ein Ärgernis für den Leser, weil Mitchell sie ganz bewusst als erweiterte Linie der Welt von heute beschreibt, die man ganz grob so zusammenfassen kann; der Klimawandel führt zu solchen Veränderungen, dass die Menschheit ihre Zivilisiertheit fast bis zur Unkenntlichkeit einbüßt und in einer Art mittelalterlichen Kampfes jeder gegen jeden lebt. Leider wird hier aber mit jedem Klischee, dass man sich (heute) vorstellen kann geworfen (Naturkatastrophen die alles dagewesene übertreffen, keine Energie mehr, Gewalt als Mittel der Zielerreichung) und die Menschheit trottet wie ein Lemming in ihr trübes Schicksal. Das hat dann fast nichts mehr von den großen und inspirierenden Texten, die wir von Mitchell gewohnt sind, sondern wirkt wie ein aktivistischer Text eines Umweltschutzstudenten, der aufrütteln möchte, ganz nach dem Motto, wenn wir jetzt nichts machen, wird es so kommen. Vielleicht hatte das Jahr 2014 noch eine andere Wirkung[1], aber 2022, in einem Jahr, wo Krisen und Katastrophen quasi zur Basis jeglichen Diskurses geworden sind, wirkt das nicht mehr wie Kunst, sondern eher wie Aktionismus, den man auch sonst hinter jeder Ecke finden kann und bei dem man sich schon ab und an fragt, warum die Zukunft umso klarer erscheint, umso düsterer sie gezeichnet wird.
Für den Roman ist dieses letzte Kapitel schade, denn wie bereits erwähnt sind die ersten vier Kapitel mit das Beste, was David Mitchell je schrieb, eines Schriftstellers, der für meine Begriffe zu den großen Autoren des frühen 21.Jahrhundert gehört. Ein Grund dafür, ist sicherlich das von mir außerordentlich geschätzte Referenzsystem von Figuren, die einem nicht nur an unterschiedlichen Stellen im Roman begegnen, sondern die auch aus anderen Roman von Mitchell in diesen hereinreichen. Diese gemeinsam geteilte Figurenuniversum wird von Mitchell „uber-novel“ genannt. Hugo Lamb beispielsweise erscheint auch in „Der 13. Monat“ (obwohl das überhaupt kein Fantasyroman ist), Crispin Hershey Werk kommt schon in „number9dream“ vor und die Seele von Marinus kennen Mitchell Leser bereits aus den „Die 1000 Herbste des Jakob de Zoet“. Diese Liste an Verknüpfungen ließe sich problemlos erweitern.[2] Die bezieht sich übrigens nicht nur auf Figuren, sondern der gesamte Fantasy-Hintergrund wird in „Slade House“ nochmal beispielhaft durchgespielt.[3] Doch auch wenn ich vielleicht persönlich solche eigenen Universen für prickelnder halte, als sie geneigte Lesende, ist es nicht nur das, was Mitchells literarische Stärke ausmacht. Wir erfahren in den „Knochenuhren“ auch viel über Freundschaft, Fürsorge, Verantwortung, Liebe und das Gefühl am Leben zu sein. Dieser Roman beinhaltet Szenen, die einem als Leser in Erinnerung bleiben werden, z.B. wo Hugo Lamb merkt, dass er sich erstmal verliebt hat, gleichzeitig aber dieses Gefühl als schwächlich und selbstzerstörerisch brandmarkt (nur um dann viele Jahre später, doch sein (unsterbliches?) Leben für diese eine Liebe zu geben). Oder die Beschreibungen des Krisenreporters Ed Brubeck über den Irakkrieg, mit all seinem Leid, Tod und der Verachtung die jede Seite für die andere Seite empfindet. Oder der wundervolle Crispin Hershey, der zwar fühlt, aber nicht verstehen kann, dass seine große Zeit als Schriftsteller vorbei ist und der keinesfalls sich, sondern die Welt dafür verantwortlich macht und der auf einer verlassenen Insel vor Perth Zuneigung und Freundschaft zu einer Holly Sykes erfährt, deren spirituelle Rätselhaftigkeit für rationale Menschen zu einer Erfahrung von unergründbarer Tiefe führen kann. Und so bleiben „die Knochenuhren“ auch trotz des mir nicht gefallenden letzten Kapitels, ein ziemlich großartiges Buch und wenn sie schon immer der Meinung waren, dass ihre Seele, mehr ist als nur ihre körperliche Substanz und ihr fortlaufendes Bewusstsein, dann ist dieser Roman ganz gewiss etwas für sie.

[1] Es fällt mir tatsächlich schwer den Zeitgeist von 2014 zu rekapitulieren. War damals alles gut, weil Deutschland Fußballweltmeister wurde? Es war immerhin die Zeit vor der Flüchtlingskrise, aber eben auch nach der Eurokirse.

[2] In der englischsprachigen wikipedia gibt das dazu eine schöne Aufzählung. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Bone_Clocks

[3] Machen Sie deshalb vielleicht nicht unbedingt den Fehler wie ich, „Slade House“ vor den „Knochenuhren“ zu lesen, anders herum erscheint es mir heute lohnender.

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