Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch einen Jahrtausende währenden Prozess den man unterschiedlich bezeichnen kann; als Entfremdung von der Natur oder auch als Zivilisationsprozess. Der Mensch erschafft sich darin Sprache, Zeichen und er ummantelt sein Verhalten mit sozialen Kodierungen und Regeln, er hemmt seine natürlichen Triebe und kontrolliert sich selbst. Mit Erving Goffman könnte man sagen: „Wir spielen alle Theater“.
Für die Novelle „Ein fliehendes Pferd“ von Martin Walzer ist diese Einführung nicht unwichtig, obwohl die Handlung – menschheitsgeschichtlich wenig imposant – in einem Sommer der 1970er Jahre am Bodensee spielt. Helmut und Sabine machen Urlaub und flanieren die Strandpromenade entlang, setzen sich und beobachten die anderen Flaneure, als plötzlich Klaus Buch, in Begleitung seiner jungen und attraktiven Freundin Hel, sie anspricht. Er meint Helmut zu kennen und tatsächlich waren die beiden Jugendfreunde, in einer für Helmut allerdings schon vergessenen Phase seines Lebens. Während Helmut seinen Urlaub eigentlich mit dem Studium von Kierkegaard Tagebüchern verbringen wollte, muss er sich jetzt der Buchs erwehren, welche darauf dringen, gemeinsame Ausflüge und Restaurantbesuche zu unternehmen. Helmut ist das wenig recht, denn er ist ein durch und durch zivilisierter Mensch, was in diesem Fall nichts anderes heißen soll als, dass er niemals zeigen möchte was wirklich in ihm vorgeht. Er spielt für andere immer nur eine Version seiner Selbst vor. „Je größer der Unterschied zwischen seinem Empfinden und seinem Gesichtsausdruck, desto größer sein Spaß. Nur wenn er ein anderer schien und ein anderer war, lebte er. Erst wenn er doppelt lebte, lebte er.“ (S.80). Klaus Buch jedoch, scheint ein anderer Typ Mensch zu sein. Er philosophiert über sein Leben im Einklang mit der Natur, über die Lüste denen er sich hingibt (Sexualität, Sport) und über die, die er für verwerflich hält (Alkohol und fettes Essen). Er scheint das komplette Gegenteil des von den Regeln der sozialen Welt geformten, unauffälligen Helmuts zu sein. Obwohl Helmut die Treffen mit den Buchs hasst, spielt er sich in der Rolle des alten Schulfreundes. Als belesener und vergeistigter Gymnasialoberrat, der das Gegenteil zum alles aufsaugenden Lebemann Klaus Buch darstellt.
„Ein fliehendes Pferd“ ist ein wundervoll geistreiches und kluges Buch, dass in seiner philosophischen Dimension höchste Ansprüche befriedigt. Dabei ist die nur rund 150 Seiten lange Geschichte keinesfalls schwer zu lesen. Ihre Stärke liegt in den zahlreichen unterschiedlichen Perspektiven die man auf das Leben bekommt. Zum einen der schon angesprochene Typus, sich nur zu spielen, darin aufzugehen ein Bild von sich für die anderen zu zeichnen. Weiterführend kommt man aus dieser Sicht der Dinge zur Frage, was möchte man dann vom Leben haben, wenn man es spielt. Denn die Buchs entfalten mit ihrem scheinbar schwerelosen Leben eine große Anziehung, gerade auf Helmuts Frau Sabine, so dass sich dieser gezwungen fühlt zu sagen: „Wehr dich doch gegen diese Verführung durch die Familie Buch, Mensch. Auch wenn das, was die tun, das Richtige ist. Laß uns beim Falschen bleiben.“ (S.104) Und während er noch seine Frau zu überzeugen versucht, muss er auch für sich feststellen, dass es einen Reiz gibt, sich selbst zu sein und auf die Regeln der zivilisierten Welt mit Nonkonformismus zu antworten, auch wenn dieser Nonkonformismus wohl bald schon die Leitidee eines neuen konformen Lebensstils werden wird. Das Buch bleibt im weiteren Verlauf nicht bei der Gegenüberstellung zweier Lebensphilosophien stehen, dass macht es noch besser, doch das lesen sie am besten selbst.