Es gibt Sujets in der Erzählung von Geschichten (seien es Romane, Filme, Serien, Theaterstücke…), die erzeugen eine fast unbegrenzte Fantasie, weil sie ein bisschen, „was-wäre-wenn“ mit der Gegenwart oder der Vergangenheit spielen. Im Sujet der Zeitreise können wir uns in eine vergangene Welt hineinversetzen und dort vergangene Probleme oder Möglichkeiten verändern. Im Sujet des Paralleluniversums leben wir in einer Gegenwart, die unsere Realität eigenwillig spiegelt, in der wir es selbst sind und es doch eine andere Realität gibt. Das lässt unserer Fantasie fast unendlich viel Platz, nicht nur gesellschaftlich (was wäre passiert, wenn das Internet nicht erfunden worden wäre? Hitler im 1.Weltkrieg gestorben wäre oder die Kubakrise der Beginn eines atomaren Krieges gewesen wäre), sondern auch individuell (was wäre wenn, ich damals mit diesen faszinierenden Menschen nicht gestritten hätte, die letzten zwei Zahlen im Lotto anders getippt hätte, in der Kurve nicht Gas gegeben hätte). Das Ergebnis ist immer das Gleiche, wir würden in einer anderen Welt leben, einer Traumwelt, an der nur ein einziger Fakt richtig ist, nämlich dass sie nie Realität war, ist oder werden wird. Es waren und sind Fantasien, Geschichten, wie wir unsere Welt erweitert sehen würden, wenn irgendetwas anders gewesen wäre, aber mit genau dieser Folie können wir die Risse in unseren eigenen Leben bestimmen. Hintergründig mitgedacht wird bei allen diesen Fantasien, die Idee eines Schicksals, denn es impliziert den zweifellos verlockenden Gedanken, dass wir die sind, die wir sind und nicht irgendwie vollkommen andere. Schicksal ist die Essenz einer Person, seiner Gerichtetheit im Leben, so etwas wie sein ontologisch-individueller Kern. Aber warum komme ich hier ins Theoretisieren?
Peter Stamms Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ nimmt sich dieses Themas an, indem er eine ungewöhnliche Geschichte erzählt. Christoph hatte einst einen erfolgreichen Roman geschrieben, der über die Liebe und die Trennung zwischen ihm und seiner Freundin Magdalena handelt. Viele Jahre später trifft er sich in Stockholm mit Lena, einer Frau, die ebenso wie Magdalena Schauspielerin ist und er erzählt ihr seine Lebensgeschichte. Diese besteht in einer Art schicksalhaftem Kreis, denn Christoph begegnet kurz nach der Veröffentlichung des Romans immer wieder seinem Doppelgänger, einem Mann namens Chris, der scheinbar genauso agiert wie er, der auch Schriftsteller werden wird, der die gleichen Lebenswege gehen wird, nur rund 16 Jahre nachdem dies Christoph getan hat und der Christoph wiederum nie wirklich bemerkt. So sieht er sein Leben noch einmal und in ihm brennt der Wunsch einzugreifen, irgendetwas zu verändern oder wenigstens zu schreien: „Achtung, da kommt das Schicksal um die Ecke!“.
Peter Stamm fasst die Handlung von „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ in seinem Roman selbstreferenziell wunderbar auf den Punkt, wenn er auf Seite 111 den Satz schreibt, der für den Roman im Roman genauso gilt, wie für den Roman als solchen selbst auch:
„Davon handelt das Buch, von den Bildern, die wir uns voneinander machen, und von der Macht, die diese Bilder über uns bekommen.“ (S.111f)
Stamm beschreibt die schicksalhafte Geschichte eines Lebensweges, der wieder erneut vor dem Subjekt, daher Christoph auftaucht. Natürlich könnte er die Spieglung seines vergangenen Ichs ignorieren, aber der Reiz ist zu groß, das Schicksal irgendwie herauszufordern. Und hier beginnt Stamm über die Rolle solcher Fantasien zu schreiben, und das macht den etwas komplexen, aber sehr interessanten gedanklichen Hintergrund von „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ aus. Was würden wir verändern, wenn wir es könnten, und was sagt das über unser momentanes Leben aus! Welche Ereignisse haben sich so in uns hineingefressen, dass wir ihren Ausgang manipulieren würden? Ist es nicht in letzter Instanz so, dass die Szenen, Entscheidungen, Gespräche und Bewegungen unseres Lebens, in welchen wir eine mögliche Kontingenz zu fantasieren bereit sind, die wirklich entscheidenden, die wegweisenden in unserem Leben waren? Die Geschichtsschreibung hat über Jahrzehnte dieser Logik vertraut, sie hat von mächtigen (meistens) Männern erzählt und deren Taten, die zu weltgeschichtlichen Umwälzungen führten (heute tut sie dies viel differenzierter). Peter Stamm wiederum lässt uns darüber nachdenken, ob unser Fantasieren über eine irgendwie andere Welt, in welcher wir lebten zu irgendetwas führt, ob wir dadurch ein anderes Ich, einen anderen Weg herausschälen können, oder ob es nicht nur unseren Weg in der Gegenwart behindert.
Dazu wählt Stamm wieder seinen typisch, nüchternen und sehr zeitlosen Ton in seiner Erzählung, der genau diesen fast schon lebensphilosophischen Überlegungen und Interpretationen viel Platz lässt und der den Roman nach „Agnes“ zu einem seiner besten macht. Ein Buch das man ebenso als Geisterbuch, oder Identitätsfindung -Buch lesen kann, wie als Roman über die Strukturen von Erzählungen.