Tár

Jahr: 2022 | Regie & Drehbuch: Todd Field | Spielfilm | Länge: 158min | Location: Berlin und New York

Der kleine Saal in einem neustädtischen Kino ist samstagabends sehr gut gefüllt. Ob dies daran liegt, dass „Tár“ als einer der besten Filme des Jahres gilt, an seinen sechs Oscar Nominierungen, von denen nicht eine Kategorie gewonnen wurde, oder am simplen Fakt, dass Samstagabend-Kinobesuche einfach mal populär sind, mag ich nicht einschätzen, ich jedenfalls wollte „Tár“ unbedingt noch sehen, bevor seine Zeit in den Lichtspielhäusern abläuft.[1]

Lydia Tár (Cate Blanchett) ist ein Star unter den Dirigenten. In einer von Männern dominierten Welt ist sie die erste Frau, die Chefdirigentin eines deutschen Orchesters ist. Sie ist eine der wenigen EGOT Gewinner und man meint, ihre Karriere erklimme immer weitere Höhepunkte. Ihre Autobiographie soll bald erscheinen und gemeinsam mit ihrem Orchester steht sie vor der Aufnahme der 5.Symphonie von Gustav Mahler.[2] Tár ist ehrgeizig, sie verfolgt ihre Ziele mit Energie und Präzision. Sie liebt Musik und sie liebt es, zu dirigieren. Sie geht auf darin, ein musikalisches Werk zu erforschen, es zu interpretieren und es mit einem Orchester zu erarbeiten und nach ihrem Empfinden aufzuführen. Und Tár liebt Frauen. In erster Linie ihre kleine Tochter Petra (Mila Bogojevic), die sie gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin und Kollegin am Orchester, Sharon (Nina Hoss) hat. Doch über die Familie hinaus ist Tár auch dazu geneigt, Frauen, die ihr optisch oder intellektuell gefallen, näher an sich zu binden. Ihre Assistentin Francesca (Noémi Merlant) ist ständig an ihrer Seite, kann sich Hoffnung machen, die Rolle des Kapellmeisters des Orchesters zu erhalten und hat eine nicht näher beschriebene intime Vergangenheit mit Tár, zu der auch die psychologisch instabile Musikerin Krista zu gehören schien. Und da ist eine neue Cellistin Olga (Sophie Kauer), welche die Aufmerksamkeit von Tár erregt.[3]

„Tár“ ist ein vielschichtiges, kluges und etwas herausforderndes Filmwerk. Das beginnt mit dem Vorspann, der – gefühlte Ewigkeiten – eine lange Liste von am Film beteiligten Personen anzeigt.[4] Wir erleben danach Lydia Tár in zwei langen Szenen, bei einer Podiumsdiskussion, in welcher wir Zuschauer, mit ihrer öffentlichen Biographie vertraut gemacht werden und bei einem Workshop mit Musikstudenten, bei welchem nicht nur illustriert wird, wie ihr Zugang zur Musik funktioniert, sondern auch dargestellt wird, wie tief sie in ein musikalisches Werk eintauchen kann.[5]

Erst dann wird mehr von ihrer Privatsphäre bekannt, ihrer Beziehung zu Frau und Kind und ihrer Art ein Orchester zu führen. Langsam wird klar, das Tár keine Kostverächterin ist, dass sie nicht stillhält, wenn sie etwas begehrt, was sie gern möchte. Allerdings hält sie auch nicht lange an etwas fest, dass ihr zunehmend unattraktiv erscheint. Hier wird der Film interpretatorisch offen und ich konnte bereits Stimmen vernehmen, die meinen man Lydia Tár könnte man als die Verkörperung einer weiblichen Harvey Weinstein verstehen. Das geht aber in die interpretatorisch falsche Richtung, denn zum einen ist „Tár“ kein Drama über den Sturz eines sexuelle Gefälligkeiten verlangenden Monsters[6] und zum anderen lässt es die Details, die zu Lydia Társ Ächtung in der Öffentlichkeit führen, nämlich die vermeintliche Affäre mit Krista und deren Ende aus.[7] Es ist die Geschichte einer Skandalisierung[8] und diese ist komplex, aber auch nüchtern erzählt.

„Tár“ ist aus diesem Blickwinkel heraus ein Film über unser heutiges Leben und die Frage, wer wir sind und was das mit dem Bild zu tun hat, das andere von uns machen wollen. Der Film ist ein Manifest im öffentlichen Umgang miteinander und er stellt klar, dass überall auch Menschen sind, die man gemeinhin für Übertäter, Monster, Andersdenkende und Feinde deklariert. Das macht „Tár“ sehr aktuell und in seiner Offenheit sehr sehenswert, denn Lydia ist keine Heldin, sie hat ihre Fehler und diese sind keinesfalls nichtig, sie ist kein Unschuldslamm, aber sie ist eben kein schlechter oder böser Mensch.

Der Film wird an Hand von großartiger klassischer Musik untermalt und hat mit Cate Blanchett eine Schauspielerin, die hier einen neuen Karrierehöhepunkt erreicht.[9] Aus regionaler Perspektive ist die Location Berlin sehr stimmig inszeniert[10] und die Szenen im Kulturpalast Dresden sind für einen Dresdner natürlich ein Grund ein wenig stolz auf seine Heimatstadt zu sein, dass sie es in eine bedeutende Hollywood-Produktion geschafft hat.[11] Aber auch ohne diese heimatverbundenen Bezüge ist „Tár“ einer der aktuellsten und besten Filme des Jahres!

 

[1] Der Film kam am 2.März in die Kinos, in Dresden lief er Anfang April aber nur noch in besagtem Neustädter Kino (aber zu meiner großen Freude im Original), ein Indiz dafür, dass er bald weichen könnte.

[2] Die, so vermittelt es der Film, einem Dilettanten der klassischen Musik wie mir, wohl eine besondere Herausforderung ist.

[3] Im weiteren Verlauf werde ich nähere Details zum Film insbesondere in den Fußnoten SPOILEREN. Es empfiehlt sich dringend erst „Tár“ anzuschauen. Sie werden es nicht bereuen!

[4] Und das Vorgehen am Ende spiegelt, denn der Abspann wird nicht mit „The End“ eingeleitet, sondern es kommt erst als allerletztes, nach der letzten Zeile der Credits. Das ist auch eine Hommage an alle Beteiligten eines Werkes, letztendlich ähnlich einem Orchester, dass auch nicht nur vom Dirigenten lebt.

[5] Und hier startet der Film schon interpretatorisch komplex zu werden (und ich liebes es!): In der Klasse führt Tár eine Diskussion mit einem Studenten, der Werke von Johann Sebastian Bach für ihn als nicht interessant darstellt, weil Bach für den Studenten zu einer misogynen Personengruppe gehört, dessen musikalische Ablehnung der Student nicht auf die Musik Bachs zurückführt, sondern diese Musik als Ausdruck einer abzulehnenden gesellschaftlichen Form betrachtet, die sich auf Bachs Rolle als Mann bezieht (die nun allerdings auch schon über 350 Jahre zurück liegt). Tár weist diese Ignoranz mit dem Argument zurück, dass die Verknüpfung von Werk und Kreator immer komplex sei und dem Zeitgeist geschuldet ist. In dieser Konsequenz steht der Student bei der von ihm bevorzugten Musik weiblicher, zeitgenössischer Künstlerinnen, dass die Kriterien, die man bei der Bewertung von Musik anwendet, die über die Musik hinausgehen (und sich beispielsweise auf die Herkunft, Biologie oder gesellschaftliche Rolle des Künstlers beziehen) immer widersprüchlich sind, wenn man Werk und Autor verknüpft. Társ Argumentation steht hier ganz für die Singularität eines künstlerischen Werkes, dass auch allein ohne den Schaffenden existiert (einer Position, der ich mich jederzeit anschließen würde).
Gleichzeitig werden diese Aussagen wieder etwas relativiert, als sie über ihre Version der Aufnahme der 5.Sinfonie von Mahler spricht und hier betont, in welcher lebensweltlichen Position Mahler zur Zeit der Arbeit an diesem Werk war (seine Frau Alma hatte eine Affäre mit Walter Gropius, welchen sie einige Jahre nach dem Tode Mahlers auch heiratete). Tár kann also die Beziehung eines Werkes zur Person, die das Werk schafft, nicht negieren. Es steht also nie allein da und in Mahlers Fall scheint sie für ihre Interpretation etwas herausarbeiten zu wollen, was Mahlers Situation bei der Erschaffung der Sinfonie nochmals neu beleuchtet.
Wie stark ist aber dann dieser Einfluss von Schaffenden zu seinem Werk? Wie bezieht sich Werk auf Künstler? Und ist dies genug ein Werk abzulehnen, weil man vermeintlich meint, etwas in einem Werk zu entdecken, was einen in der Person des Schaffenden fehlerhaft erscheint? Das ist eine grundsätzliche Frage, wenngleich der Film hier deutlich Társ Position in der Diskussion mit dem Studenten unterstützt, dem man vorwerfen kann – und muss – aus persönlicher Befindlichkeit, zu faul zu sein, sich mit Kunst zu beschäftigen, um sie mit eigenen Argumenten (aus der Kunst und der Verbindung zum Künstler) abzulehnen.
Was den Film in dieser Linie großartig macht, ist dass er diese tiefen zeitgenössischen Diskussionen komplex interpretiert und relativ wertungsfrei darstellt, denn im Großen spiegelt der Film die Problemlage von Werk und Künstler exemplarisch mit der Rolle von Lydia Tár.

[6] Nicht ein einziges Mal im Film erleben wir, dass Lydia Tár sexuelle Dienstleistungen als Gegenleistung für einen kleinen Karriere-Boost austauscht. Am Beispiel von Olga sieht man deutlich das Tár mit der bevorzugten Behandlung sich eher Nähe zu einem Menschen erkauft, diesen Menschen dann aber nicht unter Zugzwang stellt. Ist das ein kluges berufliches Verhalten? Sicherlich nicht! Ist es moralisch verwerflich? Das ist mindestens fraglich! Ist es menschlich nachvollziehbar? Absolut!

[7] Die Geschichte mit der offensichtlich als psychisch kranken Krista wird nicht näher beleuchtet. Man kann nur darüber raunen und sicherlich ist anzunehmen, das Tár eine romantische Affäre mit ihr hatte. Auch hier inszeniert der Film großartig die Problemsituation. Tár hat kein reines Gewissen, wenn es um Krista geht. War es eine raue Trennung? Hat Lydia Krista im Stich gelassen? Hat sie Warnhinweise anderer Menschen bewusst ignoriert, weil sie sich zu stark von Krista angezogen fühlte? All dies sind nur Fragen, über die der Zuschauer spekulieren kann und ganz offensichtlich ist Tár hier nicht frei von Schuld, denn man kann auch über den Selbstmord von Krista nur spekulieren. Tár reagiert hier abweisend, wohl, weil sie um die Komplikationen in privater und öffentlicher Sphäre weiß, die auf sie warten könnten.

[8] Der Film stellt wunderbar einen Mechanismus dar, der heutzutage zur Skandalisierung beiträgt; die Zuschreibung von Opfer- und Täterrollen, die emotional und moralisch aufgeladen werden.
Tár merkt nicht, wie sie von Gerüchten immer mehr in die Rolle des Täters gedrückt wird und das Opfer immer Heiliger erscheint, auch weil es nicht mehr angreifbar ist und wie die Initiatoren dieser Skandalisierung im Verborgenen arbeiten. Tár trennt noch privatem von öffentlichem Raum, wo diese Trennung schon lange nicht mehr existiert. Der Skandal so könnte man sagen, lässt keine Privatsphäre mehr übrig und er interpretiert nach belieben der aufgebrachten Menge die Rollen der Täter (und auch der Opfer) für seine Geschichte um.

[9] Das sie nicht den Oscar gewann, macht mich natürlich neugierig auf „Everything, Everywhere All at Once“.

[10] Wobei ich zwei Anmerkungen hätte. Die Auswahl des gemeinsamen Wohnhauses von Lydia und Sharon ist ein wunderbarer Kontrast zu Lydias privatem Refugium. Aber wer bitteschön wohnt freiwillig in einem Sichtbetonbunker? Als zweites sei – als regelmäßiger Läufer – angemerkt, das Szenen, wo Menschen unter Brücken laufen eventuell eine gewisse Optik haben, aber joggen unter Brücken bei laufendem Verkehr sind wegen des Verkehrslärms und der Abgase immer nur die letzte Wahl, wenn man rennt (außer man wird vom Regen überrascht).

[11] Wenngleich ungenannt und kurz zusammengeschnitten, aber was solls.

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