Wolfgang Herrndorf – Sand

Als Kind habe ich gern Sand in eine Hand genommen und ihn langsam aus ihr herausgleiten lassen. Wie viele kleine Körner dabei zurück flossen und wie viele in der Hand blieben, war mir immer ein unberechenbares Rätsel. Die Körner waren zu klein, um sie zu zählen, und sie waren zu schnell verschwunden um sie festzuhalten.

Wolfgang Herrendorfs Roman „Sand“ ist das letzte zu Lebzeiten des viel zu früh verstorbenen Autors herausgekommene Buch, ein Roman, der so ganz und gar nicht zu seinem großen Erfolg „Tschick“ passt, und auch nicht mit „In Plüschgewittern“ zu vergleichen ist. „Sand“ ist ein um einiges rätselhafterer Roman, aber ein Abenteuer auf das man sich unbedingt einlassen sollte.

Das Buch spielt zum größten Teil im Sommer 1972 in der fiktiven westafrikanischen Stadt Targat. Ich habe mir immer vorgestellt das Targat an der Küste Marokkos liegt, aber letztendlich ist das vollkommen egal. Hinter Targat beginnt die Wüste und in dieser liegt die Oase Tindirma. Seit einigen Jahren siedelten sich dort Aussteiger aus der 1.Welt an und gründeten eine eigene Kommune. Doch schnell gelangt man an die Grenzen der guten Nachbarschaft mit den Einheimischen und schottet sich mehr und mehr ab. Den unrühmlichen Höhepunkt stellt ein Massaker dar, das der minderbemittelte Einheimische Amadou begeht und dabei vier Kommunarden tötete. Von all dem weiß ein rund dreißig jähriger Einheimischer nichts, denn er erwacht in einer Scheune in der Wüste und hat sein Gedächtnis verloren. Er sieht lediglich vier Männer im Sand, die ihn scheinbar suchen und ihn ein Leid antun wollen. Er hat nur ein Gefühl in sich, und das heißt Flucht.

„Sand“ besteht aus mehreren leicht lesbaren Geschichten, die mehr oder weniger miteinander verbunden sind. Eine nicht unerhebliche Zahl von Charakteren werden eingeführt, allerdings nicht so viele das man den Überblick verliert. Einige werden ausgebaut andere nur kurz erwähnt und spielen keine weitere Rolle mehr. So wird aus dem Roman zum einen, ein rätselhafter Thriller, zum anderen gleichzeitig eine manchmal tieftraurige gesellschaftliche Studie mit historischen Anleihen.

Einen tieferen Sinn, in Form einer abgeschlossenen Handlung gibt es jedoch nicht. „Sand“ stellt Rätsel auf, löst aber bei weitem nicht alle auf. Das ist die große Stärke – neben dem wundervoll geschriebenen Text – von Sand, das Unauflösliche der Fragen. Für einige finden sich Antworten, für andere wiederum nur noch weitere Fragen, Geschichten sind immer offen und nie vollkommen geschlossen, sie rieseln wie der Sand aus unserer Hand. Man sieht die Körner fallen, aber weiß nie ganz genau wie viele es sind. Anders formuliert könnte man sagen: der Sinn einer Geschichte, liegt im erzählen dieser, im Nachdenken über sie, aber nicht in ihrer logisch-kongruenten, alles ergründenden Struktur. Ein herausragendes Buch, dass vollkommen zurecht 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann.

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