Paul Auster – 4321

Der Sommer bietet ausreichend Möglichkeiten sich ausgiebig mit Lektüre auseinanderzusetzen. Schon seit einiger Zeit freute ich mich, auf Paul Austers 2017 erschienen Roman „4321“, der mit über 1250 Seiten gerade richtig kam, um sich auf dem ausgebreiteten Handtuch an den Strand zu legen, die Wellen des Mittelmeeres, die spielenden Kinder und die emsig vorbeilaufenden Spaziergänger langsam zu vergessen und sich auf das Abenteuer eines so langen Romans einzulassen. Tatsächlich habe ich nur rund einen Monat für dieses, mit großem Abstand, längste Buch von Auster benötigt, was vor allem daran liegt, dass „4321“ sich sehr flüssig lesen lässt. Um mehr über das Buch zu schreiben, muss ich aber etwas über die erzählten Geschichten des Romans berichten und hier – geneigter Leser – müssen Sie entscheiden, ob Sie an dieser Stelle weiterzulesen, denn den ein oder anderen Teaser muss ich einbauen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: ich bin auf die grundsätzliche Idee des Aufbaus des Buches erst auf Seite 120 gekommen (ja, ja ich weiß, das hätte ich eher bemerken können) und ich will Ihnen diesen Spaß eigentlich nicht nehmen, selbst einige Sachen zu enträtseln. 

„4321“ handelt von Archibald Ferguson und dessen Erwachsenwerdens. Er ist der Sohn von Stanley Ferguson und Rose Adler, welche am 3.3. 1947 ihren einzigen Sohn Archie zur Welt bringen. Nach einer rund 50-seitigen Einführung, welche den familiären Hintergrund der Eltern erklärt, startet die Geschichte des Protagonisten, und zwar vierfach! Anfangs bemerkt man das nicht, aber wie schon erwähnt, spätestens ab Seite 120 wird es einem klar. Die Idee ist, einen Roman zu schreiben, der zeigt, wie ein Mensch unterschiedliche Lebenswege gehen kann, obwohl er quasi gleiche Startbedingungen hat. Der Leser begleitet vier verschiedene Fergusons (im Roman wird sehr häufig nur der Nachname verwendet) auf ihrem Weg durch die Kindheit, zur Pubertät, in der Schule und High School über die Universität bis hin zum Einstieg in das Berufsleben. Dabei werden die Geschichten größtenteils parallel erzählt, was den Leser etwas herausfordert, denn er muss sich sozusagen alle vier Lebenswege merken, während er je Lebensphase gerade mit einer der vier Archies zu tun hat. Es empfiehlt sich hier ein kleiner Zettel, um die wichtigsten Personen zu vermerken, die gerade in den späteren Lebensbahnen teilweise nur in einem Geschichtsstrang (wie beispielsweise Artie Federman, Fergusons brüderlich geliebter Freund in Version 4, oder Vivian Schreiber, die begüterte und sehr sympathische Autorin und Society-Frau in Version 3) auftauchen. Die Personen seiner Familie finden sich in jeder Version wieder, nehmen aber unterschiedliche Beziehungen zu Archie ein. Seine Mutter Rose, pflegt ein teilweise sehr inniges Verhältnis zu ihm, während er mit seinem Vater Stanley in jeder Version vor mehr oder weniger großen Problemen steht. Tante Mildred ist immer ein wenig wunderlich und in allen Versionen nimmt die Familie der Mutter eine größere Rolle ein, als die langsam verschwindende Familie des Vaters, was etwas irritiert, weil der Roman mit der Vorstellung dieses Familienteils beginnt (wobei er eigentlich mit einer wundervollen Einleitungsszene beginnt, wie Fergusons Großvater bei seiner Einreise in die USA genau zu diesem Namen kommt). Amy Schneiderman ist die einzige Person außerhalb der Familie, die in allen Versionen auftaucht. Sie ist überall Fergusons große (wenngleich nicht einzige) Liebe. Austers Idee dass es – körpereigene Biochemie hin oder her – Menschen gibt, in die Mann sich einfach nicht, nicht-verlieben kann, ist ebenso romantisch wie originell.
So gehen die vier Fergusons ihrer Wege (verlieben sich alle irgendwann in Amy) und werden mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, die sie zu unterschiedlichen Menschen machen. Diese Darstellung der Differenz der vier Charaktere gelingt Auster nur begrenzt, auch wenn Archie 1 vielleicht etwas zurückhaltender ist, Archie 2 ein Einzelgänger, Archie 3 ein Rebell und Archie 4 ein Mensch auf der Suche nach dem Ausdruck seiner Selbst ist. Diese fehlende Wahrnehmung einer Differenz der vier Archies liegt wohl daran, dass alle Vier einen sehr ähnlichen Zugang zu Kunst und Kultur haben. Sie alle lieben das Schreiben, auch wenn dies unterschiedliche Ausformungen annimmt, vom Journalisten, über den Übersetzer von Gedichten hin zum Romanautor. Weiterhin übernehmen alle Fergusons die Liebe zum Kino von der Mutter und alle vier sind sehr sportliche Jungen. Sie haben alle die mehr oder weniger gleiche politische Einstellung, sie sind alle links-liberal, mal mehr, mal etwas weniger politisch aktiv, aber alle sehr interessiert, was in ihrer Welt vor sich geht. Dieses Interesse an den politischen Verhältnissen macht einen wesentlichen Schwerpunkt des Romans aus, der uns sehr tief in die amerikanische Geschichte, insbesondere der 1960er Jahre führt, zumeist aus der geografischen Perspektive New Yorks heraus, wenngleich Paris ein bedeutender Nebenschauplatz (und eine Art intellektueller Sehnsuchtsort) der Geschichte ist. „4321“ ist damit auch so etwas wie eine Liebeserklärung an New York City.
Das Auster seine(n) Hauptfigur(en) des Ferguson so wesensähnlich mit seiner eigenen Person gestaltet, hat mit der Selbstreferenz des Romans zu tun. Auster wurde einen Monat früher als Ferguson geboren, war (oder eventuell ist) gleichfalls sehr sportlich und es würde mich verwundern, wenn er zumindest in den 1960er Jahren nicht dem linksliberalen Spektrum sich zugehörig gefühlt hätte. So ist das Buch auch eine Spielwiese, wie er selbst hätte werden können. Leider macht es das für den Leser nicht wirklich spannender, denn wenn es etwas an diesem Welzer zu kritisieren gibt, dann ist es die Länge des Romans, die besonders in der Mitte der Erzählung unnötig aufgebläht wirkt. Dazu kommt, dass Auster insbesondere bei Autoren, Büchertiteln und Kinofilmen ein fast schon wikipedianisches Namedropping betreibt. Natürlich werden dabei ganz unterschiedliche Autoren berührt und sehr unterschiedliche Herangehensweisen an den künstlerischen Ausdruck und das des Schreibens gezeigt, aber da man als Leser immer wieder zwischen den Versionen wechseln muss, bleibt kaum mehr ein Rauschen von Namen zurück, als eine wirkliche Einsicht, wie (intellektuell) unterschiedlich die Fergusons geworden sind. Das wird dann etwas lästig und erst im letzten Drittel beginnt der Leser die Differenzen der Charaktere besser wahrzunehmen und die einzelnen Fergusons besser schätzen zu lernen und begreift warum der Roman „4321“ und nicht etwa „1234“ heißt.

Und so endet die Lektüre des Sommers im heimischen Freibad und auch wenn ich nicht behaupten kann „4321“ wäre ein Meisterwerk geworden (es bleibt hinter Austers „Unsichtbar“ deutlich zurück) ist es doch ein unterhaltsamer Bildungsroman, der mich einen wunderschönen Monat lang (ob nun am Strand in Mareny oder Achill Island, auf meinem blauen Sofa, im Zug nach Leipzig, oder im Freibad Dölzschen) begleitet hat.

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