Als ich vor einigen Wochen Judith Herrmanns „Sommerhaus, später“ beendete, las ich im Nachgang davon, dass sie sich stark von Raymond Carver inspiriert fühlte, der als einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Shortstory des 20. Jahrhunderts gilt. Also sagte ich mir in einem Anfall von heimatlicher Herablassung, warum nicht mal das amerikanische Original lesen!
Die 17 Kurzgeschichten von „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ erschienen 1981 im Original. Tatsächlich ist eines der auffallendsten Merkmale der Geschichten ihre Kürze, beispielsweise erreicht die Story „Ruhe“ nur 5 Seiten. Dafür verantwortlich ist übrigens Carvers Verleger Gordon Lish, der die Geschichten nicht nur teilweise recht dramatisch (bis zu 50%) gekürzt haben soll, sondern sie auch stets auf das für die Erzählform typische offene Ende hin bearbeitet hat. Und so wird man als Leser stets in einen Handlungsrahmen geworfen, der sich wie ein impressionistisches Bild anfühlt, auf dem mit eher minimalen Mitteln ein kleiner Ausschnitt aus dem Alltag der Figuren erzählt wird. Niemals geht es um spektakuläre und komplex verwobene Handlungsstränge, sondern um die Einfachheit des Lebens, die aber immer wieder große Interpretationsspielräume ermöglicht, was dann wiederum an die Gemälde Hoppers erinnert.
Auch wenn durch die Vielzahl, einige Geschichten schnell aus dem Bewusstsein verschwinden, gibt es doch nicht wenige Storys, die hängen bleiben. In „Sucher“ wird ein Mann von einem Fotografen ohne Hände besucht, der sein Haus fotografieren möchte. „Ich konnte die kleinsten Dinge erkennen“ handelt von Nachbarschaftsstreit und Freundschaft. „Das Bad“ erzählt von einem Unfall eines Jungen und der Verzweiflung seiner Eltern, was man am besten tun könnte, während der Sohn bewusstlos im Krankenhaus liegt. „Sag den Frauen, dass wir weggefahren sind“ stellt einen Ausflug zweier gelangweilter Ehemänner dar. In „Nach den Jeans“ geht ein älteres Ehepaar zu ihrer wöchentlichen Bingo-Partie. „Soviel Wasser so nah bei uns“ beschreibt die Konsequenzen einer ungewöhnlichen Angeltour eines Ehemanns auf dessen Frau. Ein geschiedener Mann kehrt zu einem gemeinsamen Kaffeetrinken zu seiner ehemaligen Familie zurück in „Ein ernstes Gespräch“. „Alles klebte an ihm“ ist der liebevolle Rückblick eines Vaters auf eine gemeinsame Geschichte mit seiner Tochter, während diese ein Baby war. Die vielleicht beste und namensgebende Story des Buches ist „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ über zwei Pärchen die beim gemeinsamen Drink über die Liebe und ihre Formen plaudern.
Carvers Geschichten stellen zumeist Menschen der unteren amerikanischen Mittelklasse dar, die jederzeit sehr einfühlend beschrieben werden, die in ihrem Leben Probleme angesammelt haben und einige ihrer Hoffnungen bereits begraben mussten und nun vor den Ergebnissen ihrer Existenzen stehen. Die Kürze, die Hineingeworfenheit und die Offenheit der Geschichten machen die fesselnde Wirkung des Buches aus, dass wie ein Besuch einer Gemäldegalerie des gewöhnlichen Lebens wirkt.