T.C. Boyle – América

Besuche in anderen Ländern verleiten, sich den dortigen Autoren und ihren Gegenständen zu nähern und manchmal damit mehr zu entdecken als nur Landschaften oder Städte. Durch einen Aufenthalt in Kalifornien fiel mir der Name T.C. Boyle auf. T.C. steht für Tom Coraghessan (wobei er sich den zweiten Vornamen im Alter von 17 Jahren selbst gab). Nach einem kurzen Überfliegen der zahlreichen Romane und Geschichten von Boyle hatte ich mich für „América“ entschieden, um einen Eindruck von den Werken Boyles zu bekommen. Tatsächlich heißt das Buch im Original „The Tortilla Curtain“ (ich nehme an, Boyle wäre die deutsche Version in der amerikanischen Heimat etwas zu wuchtig gewesen). Mit dieser in den USA umgangssprachlich verwendeten Bezeichnung ist die Grenze zwischen Kalifornien und Mexiko gemeint bzw. deren Durchlässigkeit, die zu einer illegalen Immigration von Mexikanern in den Norden führt. Obwohl der Roman 1995 geschrieben wurde ist er auch heute noch aktuell, war es doch gerade erst US-Präsident Trump, der als Wahlversprechen eine Mauer zu Mexiko versprach.

Der Roman begleitet zwei Hauptfiguren, die sich gleich im ersten Kapitel begegnen, als Delaney Mossbacher den „Illegalen Mexikaner“ Càndido Rincon anfährt. Delaney ist ein liberaler Ostküstler, der nach der Scheidung seiner 1.Ehe nach Kalifornien gekommen ist und hier mit seiner 2.Frau Kyra und dessen Sohn Jordan zusammenlebt. Während seine Frau eine emsige Immobilienmaklerin ist, arbeitet Delaney von zu Hause aus, einer gehobenen Siedlung von Eigenheimen, dem Arroyo Blanco im nördlichen Los Angeles, und schreibt für Naturkundemagazine. Seine Leidenschaft ist das Wandern, wo er sich für neue Artikel inspirieren lässt.
Ganz anders ergeht es Càndido. Seit Jahren zieht er, wie so viele seiner insbesondere männlichen Landsleute nach Norden, um in der Saison in den USA Geld zu verdienen und dies dann nach Hause nach Mexiko zu bringen. Doch seine Frau im Heimatdorf hat ihn nach vielen Jahren der einsamen und stets mühsamen Arbeit im Norden verlassen und so ist er, obwohl schon über 30 mit ihrer jüngsten Schwester durchgebrannt, der 17-jährigen América, um in den USA ihren Traum leben zu können. Mit harter Arbeit eine kleine Wohnung zu mieten und etwas von dem scheinbar sonst im Überfluss vorhandenen Wohlstand abzubekommen. Doch die Anfangsbedingungen sind alles andere als einfach. Nach Càndidos Unfall ist dieser nicht fähig, den kleinen gemeinsamen Schlafplatz in einem kleinen und verlassenen Tal zu verlassen, um an die Stelle neben der Wohnsiedlung zu gelangen, wo „Illegalen Mexikanern“ schlecht bezahlte Jobs angeboten werden. Obwohl Càndido sein Veto einlegt, versucht nun América dort einen Job zu bekommen, denn die Zeit drängt. Sie ist schwanger und die beiden müssen mindestens 1000 Dollar ansparen um eine Wohnung oder wenigstens ein Zimmer anmieten zu können, bevor das Baby geboren wird.

„América“ ist ein politischer Roman, der die Zeit der 1990er Jahre in Kalifornien abbildet, wo sich die öffentliche Meinung stark gegen die illegale Immigration richtete. Bestes Beispiel dieser Stimmung ist vielleicht die Proposition 187. In der Darstellung der beiden verschiedenen Welten (wobei der auktoriale Erzähler neben Delaney und Càndido auch Kyra und América einschließt) bezieht Boyle aber keine Stellung für eine der beiden Seiten. Vielmehr zeigt er auf Càndidos Seite, wie sehr die Verwirklichung eines Traumes zum Unterschätzen der realen Lebenssituation als schlechtes Karma führen kann und dies wiederum in immer aussichtslosere Situationen münden kann. Auf der anderen Seite zeigt Boyle, wie ein gesellschaftlicher Verfolgungswahn sich in den Köpfen festsetzen kann, selbst in denen, die man dafür für immun halten würde. Das gegenseitige Verstehen, das Einnehmen der anderen Perspektive scheint zu einem gedanklichen Vorgang zu werden, den beide Seiten nicht mehr leisten können.

TC Boyles Roman erhielt große Anerkennung (zum Beispiel den französischen Prix Médicis), aber auch Ablehnung, die sich wohl daraus auch Erklären lässt, dass es sich um einen politischen Roman handelt, der die Probleme der Immigration aufzeigt, ohne sich klar auf eine Seite zu stellen. Das macht den Roman aber umso lesenswerter, der mit zunehmenden Verlauf spannender und interessanter wird. Ein -auch und besonders heute noch – wunderbar zu lesendes Buch.

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