Stephan Thome – Grenzgang

Erschien 2009 bei Suhrkamp mit 454 Seiten

Das schöne, weiße Bücherregal in meiner Wohnung, dass alle meine Romane beherbergt, hat mehrere Nachteile. Zum einen quellt es etwas über. Weil man die Bücher nicht mehr in die Reihen nebeneinander stopfen kann, müssen Sie über den Reihen angestapelt werden. Das kann gut aussehen und ich stehe ein wenig auf Bücherregale, die vor Büchern überquellen. Was mir bei meinem Regal aber zunehmend Sorge bereitet, ist der Fakt, dass – bedingt durch mein akribisch eingehaltenes Ordnungssystem nach Buchautor und Erscheinungsjahr zu ordnen – viele meiner Lieblingsbücher auf der untersten Regalebene, im Grenzbereich des Fußbodens zu finden sind, beispielsweise: David Foster Wallace, Peter Stamm oder auch Stefan Zweig. Das ist ärgerlich, denn nicht nur sammelt sich Staub da unten immer am besten, es ist auch ein wenig so wie im Supermarkt, man bemerkt die Dinge, die da unten liegen kaum. Das ist nun noch ärgerlicher geworden, seit ich auch die beiden Bücher von Stephan Thome in dieser Reihe unterbringen muss (Geißel der eigenen Ordnung). Nach „Fliehkräfte“ kommt links daneben sein Romandebüt „Grenzgang“ hinzu, ein Werk, dass mich sogar noch mehr überzeugte als erstgenanntes Buch.

Der Grenzgang ist ein Volksfest, dass für drei Tage nur alle sieben Jahre im beschaulichen hessischen Städtchen Bergenstadt stattfindet. Für Kerstin Werner wird diesen August schon der vierte Grenzgang stattfinden. Ihr Sohn Daniel ist sechzehn Jahre alt und sie ist seit einigen Jahren von ihrem Ex-Mann Jürgen geschieden[1]. Es ist der startende Sommer der Fußball Heim-WM 2006 und Kerstin hat Geburtstag. Sie ist Mitten in ihren 40ern angekommen und das Leben zieht gefühlt an ihr vorbei. Ihre pflegebedürftige Mutter lebt in ihrem Haus, ihre beste Freundin Anita sieht Kerstin eigentlich nie mehr, denn sie feiert sich als Lebefrau. Als Zugezogene findet sie die anderen Bergenstädter teilweise etwas wunderlich, so wie Frau Preiss, die Frau eines wohlsituierten Einheimischen. Der Reiz des Grenzgangfestes hat sich auch verflogen. Es ist alles noch wie vor 21 Jahren, als sie Jürgen kennenlernte und doch ist alles anders. Auch der Sohn macht Schwierigkeiten im Gymnasium und Klassenlehrer Thomas Weidmann zeigt sich besorgt. Doch auch sein Leben verliert zunehmend an Reiz. Einst mit dem Anspruch angetreten, eine akademische Karriere in Berlin hinzulegen, ist er vor sieben Jahren in seine Heimat Bergenstadt zurückgekehrt, ohne Karriere und auch ohne die Frau, mit der er eigentlich alt werden wollte.

Den „Grenzgang“ als aller sieben Jahre zelebriertes dreitägiges Fest gibt es tatsächlich. Er findet in Thomes Geburtsstadt Biedenkopf in Hessen statt und bildet den zeitlichen Rahmen des Romans gleichen Namens, in dem er siebenjährige Zeitfenster eröffnet. Die Handlung spielt in insgesamt fünf Grenzgangsjahren (wobei lediglich ein kurzer Abschnitt über einen zukünftigen und daher den 5.Grenzgang im Roman berichtet). Thome ändert allerdings nicht nur die Städtenamen Biedenkopf zu Bergenstadt. Das tatsächliche Volksfest fand auch jeweils ein Jahr vor der Romanhandlung statt (im Roman im Sommer 2006, tatsächlich aber 2005, der nächste ist übrigens am dritten August Wochenende 2026 geplant – nur für den Fall, dass sie da noch nicht vorhaben, geneigte Leser).
Das verleiht den Roman einen Panorama Charakter, der den Lebensweg von über 20 Jahren im Leben zweier Menschen zeigt. Thome schafft es damit die Persönlichkeiten seiner beiden Hauptfiguren sehr tief einzufangen. Nicht nur was ihre Ideen von Liebe, Familie, Karriere oder Heimat betreffen, sondern auch, wie sich diese Dinge im Laufe der Jahre entwickeln, wie Zeit vergeht und Dinge anders werden, die man so nie geplant hätte. Wie aus Lebensträumen, andere Realitäten werden und wie man sich wiederfindet im täglichen Dasein und aus diesem auch nicht reißaus nehmen kann. Der Roman brilliert hier an einigen Stellen (ein paar Szenen finde ich weniger glaubwürdig, wie beispielsweise die Partner-App Geschichten von Thomas, das aber sind die großen Ausnahmen) und das, ohne einen spektakulären Handlungsrahmen abzuarbeiten. Die Zeit fließt und die Leben werden gelebt, bis die Protagonisten feststellen, dass sie dies schon lange so tun. Ein melancholischer Roman, den man Lebensphilosophisch nennen kann und der einige wirklich herausragende Stellen hat, so wie diese, die ich ihnen vorlesen möchte:

[1] Das ist der erste Roman den ich gelesen habe, indem ein Paar, wenngleich hier im Zeitverlauf des Romanes größtenteils ein Ex-Paar, die gleichen Vornamen wie meine Eltern tragen.

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