Sie lesen im Folgenden einen Beitrag über Paul Austers Roman „Unsichtbar“ der 2011 veröffentlicht wurde. Ich gebe zu, ich erlag vor der Lektüre des etwas mehr als 300 Seiten langen Buches, der Vorstellung irgendetwas nicht Sehbares, vielleicht Gespenstisches (ein Geist?) würde in Austers 13. Roman eine Rolle spielen. Wenn Sie auch diese Hoffnung haben, muss ich Sie warnen, dem ist nicht der Fall. Vielmehr bezieht sich der Titel auf ein Phänomen im Umgang mit unseren Leben und deren Betrachtung, welchem sich der Text annimmt. Doch bevor das näher ergründet werden soll, als Erstes eine kurze Einführung in den Inhalt der Handlung:
Im Frühjahr 1967 trifft der Student Adam Walker auf einer Party in New York auf das französische Pärchen Rudolf Born und Margot Jouffroy. Born bietet Walker einen Job an, doch im weiteren Verlauf des Frühjahrs zeigt sich, dass nicht nur Born ein sehr geheimnisvoller und wenig vertrauenerweckender Typ, sondern sogar gefährlich ist. Nachdem Walker den Sommer in New York mit seiner Schwester Gwyn verbringt, versucht er sich im Herbst des gleichen Jahres als Austauschstudent in Paris, wo er erneut auf Born trifft, der aber nun nicht mehr mit Margot zusammen ist, sondern mit der Französin Hélène und ihrer 18-jährigen Tochter Cécile lebt.
Die Geschichte wird nur zum Teil von Walker erzählt, sondern in weiten Teilen von einem ehemaligen Studienfreund, dem heutigen Schriftsteller James Freeman, den Walker kurz vor seinem Tod 2007 kontaktiert und ihm die Manuskripte seiner Erinnerungen an das 40 Jahre zurückliegende 1967 zusendet. Es handelt sich bei Austers Roman also um ein Buch-im-Buch, das zahlreiche Perspektivenwechsel des Erzählers vollzieht.
Der Roman ist ein durchaus abwechslungsreicher Text, dessen Erzähltempo zwischendurch recht routiniert herüberkommt, aber nicht wirklich berauscht. Was „Unsichtbar“ zu einem guten Buch macht, ist die Komposition unterschiedlicher Perspektiven auf den Handlungsstrang und das damit verbundene herausarbeiten, dass auch mit mehreren Beobachtern eben nicht alle Einzelheiten einer Geschichte sichtbar werden, sondern ganz im Gegenteil Fragen und Komplexität eher zunehmen. Um das etwas näher darzustellen, muss ich ein klein wenig ausholen.
In den Sozialwissenschaften gibt es den Begriff der „Beobachtung zweiter Ordnung“. Damit ist gemeint, dass es eine Beobachtung der Beobachtung geben kann. Um es beispielhaft zu machen; ich kann Beobachten, wie jemand etwas anderes beobachtet, ich kann beispielsweise Texte über ein Geschehen lesen und dabei „beobachte“ ich quasi, wie der Beobachter der ersten Ordnung, ein Geschehen beobachtet (indem er den Text aufschreibt). Dabei gibt es aber immer einen „blinden Fleck“, etwas notwendig Unsichtbares, nämlich das Problem, das ich niemals von meiner Beobachterperspektive aus, gleichzeitig den Beobachtungsgegenstand und mich selbst beim Beobachten beobachten kann. Für den Soziologen Niklas Luhmann ist diese „Beobachtung zweiter Ordnung“ ein wesentliches Merkmal der Moderne. Nicht die unvermittelte Aufnahme von Geschehnissen ist der wichtigste Aushandlungsprozess unserer heutigen „Wirklichkeit“ (sie erlauben mir ein so großes Wort zu benutzen), sondern die vermittelte Beobachtung zweiter Ordnung. Um alles mit einem Beispiel etwas klarer zu machen: wir erleben ein Erdbeben nicht vor Ort, sondern im Fernsehen, im Internet, in der Zeitung, wo uns jemand darüber berichtet. Jeder dieser Beobachter des Erdbebens hat nun wieder seine Perspektive auf die Ereignisse; im Fernsehen zeigt ein Reporter beispielsweise die obdachlosen Opfer des Bebens, wie Sie unter freiem Himmel übernachten müssen; im Internet kursiert ein Video, dass den Moment in einem wackelnden Haus zeigt, als das Beben ausbricht und in der Zeitung könnte ein Text veröffentlicht werden, der über die wirtschaftlichen Folgekosten der Naturkatastrophe spekuliert, usw. Umso mehr wir über das Beben Informationen sammeln, umso umfangreicher sind wir darüber informiert, aber das Ereignis in Gänze können wir trotzdem nicht erfassen, es bleibt also immer ein nicht (ein)sehbarer Rest.
Paul Auster – um nun wieder auf unseren Roman zu kommen – versucht aufzuzeigen, wie die Beobachtung bei einem weitaus weniger komplexen Thema von statten geht, nämlich bei der Rekonstruktion der Ereignisse des Jahres 1967 im Leben von Adam Walker. Was Auster vortrefflich schafft, ist es zu zeigen, dass auch durch die unterschiedlichsten Perspektiven, es trotzdem nicht möglich ist, ein Jahr im Leben eines Menschen vollkommen zu entschlüsseln. Trotz den Erinnerungen von Walker, der Recherche von Freeman und der Einbeziehung von Quellen dritter, bleibt der Leser mit allerhand Wissen zurück und dort wo sich keine Beweise ausmachen lassen mit einem Gespür dafür was passiert sein könnte. Hier taucht ein weiterer „blinder Fleck“ auf, nämlich das gleichlautende Phänomen in der Sozialpsychologie, dass man eigene Handlungen, insbesondere moralisch zweifelhafte, durch Abwehrmechanismen relativiert oder gar negiert. Damit wird die moralische Dimension des Textes mit der Frage der Wahrhaftigkeit verknüpft, denn im Jahre 1967 fanden im Leben von Adam Walker einige Ereignisse statt, die in unserer Gesellschaft moralisch verwerflich sind, doch die Aussagen der betreffenden Personen dazu sind immer auch Stellungnahmen zum eignen Tun und damit gleichfalls eine Bewertung des eigenen Tuns. Doch wenn blinde Flecke sich in die Beobachtung von Handlungen schleichen, wie will man da so etwas wie einen objektiven Bericht der Handlungen schreiben? Damit sind wir beim Kernthema von „Unsichtbar“ angelangt. Der Leser erfährt hier Handlungen aus dem Leben des Protagonisten und er entwickelt ein Gefühl dafür was wahr ist und was richtig, aber dieses Gefühl an die Wahrheit zu glauben, wird immer wieder in Zweifel gestellt, denn andere Perspektiven kommen zu anderen Aussagen und obwohl man so ungefähr weiß was passiert ist, muss man letztendlich sich seinen eignen Reim auf die Handlung machen. Es ist das Spiel mit Fiktion und der eingetrübten Realität, dass Auster thematisiert, die Möglichkeiten und die Grenzen eigenes Tun sichtbar zu machen und das Herausarbeiten des notwendig unsichtbar Bleibenden, dass wir alle in uns tragen und von dem wir nicht möchten das es für andere sichtbar wird, oder das sogar im Laufe der Zeit in uns verschwimmt und sich auflöst.
Und damit kommen wir final zur Selbstbezüglichkeit dieses Blogtextes, der ja nur wiederum eine Beobachtung des Textes von Paul Auster ist und ihnen meinen Eindruck über das Buch vermittelt hat. Und um bei der Fragestellung des Buches zu bleiben, können Sie sich natürlich auch über diesen Text die Fragen stellen: ist die Interpretation des Textes überhaupt sinnfällig? Kann man diesem Blog trauen? Folgt daraus, dass es sich um einen guten Roman handelt? Für mich schon, aber auch für Sie, geneigter Leser? Warum werden hier mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben?
Wenn Sie Ideen zur Interpretation des Schlusses des Romans haben sind Sie herzlich eingeladen, diese mit mir zu teilen, entweder als Kommentar, oder per Mail an die angegebenen Kontaktdaten dieses Blogs.