Juli Zeh – Unter Leuten

Irgendwo in der Prignitz hat Juli Zeh Unterleuten gesetzt, ein fiktives Dörfchen rund eine Fahrstunde von Berlin weg. Ein Vogelschutzgebiet, der nahe Wald und die ruhige Lage, weit weg von urbaner Hektik, scheinen die kleine Siedlung, zu einem entspannten Ort im Nirgendwo zu machen. Hier leben, teilweise seit einigen Generationen, Familien wie die Grombowkis und die Krons, zusammen mit neu Zugezogenen wie den Fließ und Franzens. Man kennt sich, man grüßt sich, man hilft sich, man ignoriert sich oder man hasst sich. Dieses eher verschlafene Dorfleben, das gerade unter einer großen Sommerhitze schwitzt, wird aufgerüttelt von einer Nachricht oder besser einer Möglichkeit, die das Dorfleben verändern soll.

Juli Zehl legt mit „Unter Leuten“ aus dem Jahr 2016 einen Gesellschaftsroman vor, der sich wie ein großes Panorama ganz vielen Themen der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte widmet. Der Roman kontrastiert Stadt und Land, in dem er insbesondere junge Städter auf dem Sehnsuchtsort Land zeigt und die mentalen Unterschiede zwischen urbanen und dörflichen Leben porträtiert, so wie es die „Einheimischen“ seit Jahrzehnten Leben. Daran schließt sich fast fließend das Motiv unterschiedlicher Mentalitäten zwischen Ost- und Westdeutschen an, wobei man vielleicht etwas verkürzt sagen könnte, dass die schrulligen Dörfler Ossis und die abgedrehten Neuankömmlinge im Dorf Wessis sind. So entwickelt sich dieses Buch zu einer Studie über Werte, Traditionen und Normen zwischen den Motiven von Heimat, Familie und Geld. „Juli Zeh – Unter Leuten“ weiterlesen

Peter Stamm – Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Es gibt Sujets in der Erzählung von Geschichten (seien es Romane, Filme, Serien, Theaterstücke…), die erzeugen eine fast unbegrenzte Fantasie, weil sie ein bisschen, „was-wäre-wenn“ mit der Gegenwart oder der Vergangenheit spielen. Im Sujet der Zeitreise können wir uns in eine vergangene Welt hineinversetzen und dort vergangene Probleme oder Möglichkeiten verändern. Im Sujet des Paralleluniversums leben wir in einer Gegenwart, die unsere Realität eigenwillig spiegelt, in der wir es selbst sind und es doch eine andere Realität gibt. Das lässt unserer Fantasie fast unendlich viel Platz, nicht nur gesellschaftlich (was wäre passiert, wenn das Internet nicht erfunden worden wäre? Hitler im 1.Weltkrieg gestorben wäre oder die Kubakrise der Beginn eines atomaren Krieges gewesen wäre), sondern auch individuell (was wäre wenn, ich damals mit diesen faszinierenden Menschen nicht gestritten hätte, die letzten zwei Zahlen im Lotto anders getippt hätte, in der Kurve nicht Gas gegeben hätte). Das Ergebnis ist immer das Gleiche, wir würden in einer anderen Welt leben, einer Traumwelt, an der nur ein einziger Fakt richtig ist, nämlich dass sie nie Realität war, ist oder werden wird. Es waren und sind Fantasien, Geschichten, wie wir unsere Welt erweitert sehen würden, wenn irgendetwas anders gewesen wäre, aber mit genau dieser Folie können wir die Risse in unseren eigenen Leben bestimmen. Hintergründig mitgedacht wird bei allen diesen Fantasien, die Idee eines Schicksals, denn es impliziert den zweifellos verlockenden Gedanken, dass wir die sind, die wir sind und nicht irgendwie vollkommen andere. Schicksal ist die Essenz einer Person, seiner Gerichtetheit im Leben, so etwas wie sein ontologisch-individueller Kern. Aber warum komme ich hier ins Theoretisieren? „Peter Stamm – Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ weiterlesen

David Mitchell – Der dreizehnte Monat

Der Sommer 2021 zeigt gerade nochmal, dass er auch warm und sonnig kann, aber es lässt sich nicht wegdiskutieren, irgendwann wird es Herbst und dann wieder Winter. Und mitten im Winter, genauer im Januar 1982, beginnt David Mitchells vierter Roman und zeigt uns in 13 Monaten, 13 Kapitel aus dem Leben des 13-jährigen Jason Taylor.

Jason lebt in der kleinen Ortschaft Black Swan Green (so auch der Originaltitel des Romans), in der Provinz Westenglands, irgendwo zwischen Birmingham und Bristol. Sein größtes Problem in der aufkommenden Welt der Adoleszenz ist, dass er einen kleinen Sprachfehler hat und gelegentlich stottert. Das ist für sein Image bei den Schulkameraden keinesfalls förderlich und Image ist fast alles, worum es in diesem Alter in der Schule geht. Die Schule wird für ihn daher zunehmend zu einem unangenehmen Ort voller Rabauken, Idioten und eher inkompetenten Lehrern. Leider ist aber auch im Hause Taylor, nicht alles eitel Sonnenschein. Jasons Vater, ein notorisches Arbeitstier, bekommt seltsame Anrufe, während Jasons Mutter das einsame Leben einer Hausfrau lebt und Jasons Schwester, Julia, mit ihren 18 Jahren, es quasi als Lebensaufgabe ansieht, ihren Bruder zu nerven. „David Mitchell – Der dreizehnte Monat“ weiterlesen

Christoph Hein – Verwirrnis

Vor einiger Zeit hörte ich im Deutschlandfunk eine Lesung von Christoph Heins Roman „Verwirrnis“. Eine Neugier auf dieses Buch spross in mir, wenngleich nur latent und in diesem Sommer wurde der 2018 veröffentlichte Text in meine Sommerleseliste aufgenommen. Tatsächlich sind schon einige Bücher dieser Liste abgelesen und man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Hälfte des Sommers schon wieder vorbei ist.
Gerade noch war es Ende April und der Gartentisch wurde auf dem Balkon zum Abendessen erstmals festlich mit Sushi gedeckt, schon werden die Tage wieder kürzer und das Wetter zeigt schonmal, wie es im Herbst sein könnte. Noch ist der Sommer aber nicht abgeschrieben und die Leseliste hält noch einige Bücher parat, aber mit dem hereinbrechenden August wird uns gewahr, dass jeder Sommer, wie jedes Jahr, wieder zu kurz ist. „Christoph Hein – Verwirrnis“ weiterlesen

T.C. Boyle – Grün ist die Hoffnung

Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass ich im Jahr zwei T.C. Boyle Romane lese. Nachdem recht politischen und vollkommen humorfreien „Hart auf Hart“ (Boyles 15. Roman aus dem Jahr 2012) zu Beginn des Jahres, waren meine Hoffnungen auf ein amüsanteres Buch aus den ersten Jahren seines Schaffens zu treffen groß (ähnlich wie sein großartiges Debüt „Wassermusik“) und so kam „Grün ist die Hoffnung“ (sein 2. Roman aus dem Jahr 1984) auf meine Sommerbuch-Liste. „T.C. Boyle – Grün ist die Hoffnung“ weiterlesen

Haruki Murakami – Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Bandbreite menschlicher Beziehungen ist mannigfaltig. Freundschaften sind dabei ein nicht unerheblicher Teil. Für viele Menschen sind sie der Ankerplatz der Existenz, für andere unnötiger Ballast, auf dem wellenartigen Ritt des Lebens. Haruki Murakamis 13. Roman, der 2013 erstmals veröffentlicht wurde, widmet sich dem Thema Freundschaft und wie diese sich von losen Bekanntschaften an einem Ende und von attraktiven Begehren am anderen Ende unterschieden können.

Der 36-jährige Eisenbahningenieur Tsukuru Tazaki lebt in Tokyo und baut Bahnhöfe, was sein Traumberuf seit Jugendjahren war. In diesen Jugendjahren war er Teil einer Clique, die mit ihm aus jeweils zwei weiteren Jungen und Mädchen bestand und die damals für alle fünf der wichtigste Teil ihres Lebens war. Als Tsukuru wegen des Studiums nach Tokyo zog und die anderen vier in Nagoya (einer Stadt rund 350km westlich von Tokyo) blieben, kann die freundschaftliche Beziehung zunächst aufrechterhalten werden, bis sie eines Wochenendes plötzlich zerbricht und Tsukuru ohne Gründe aus der Gruppe ausgeschlossen wird. Das bedeutet fast das sein Ende und der damals 20-jährige Student ist kurz davor, nicht mehr weiter leben zu können. Doch seine Erfahrung mit dem Tod bleibt annähernd und er fängt nach einem halben Jahr ein neues Leben an. Doch die Narbe, einfach nie wieder Kontakt zu seinen besten und einzigen Freunden zu haben bleibt und vergräbt sich tief in seinem Herzen. Mitten in seinen 30er Jahren angekommen, ist es eine Frau, die diese Narben neu aufbricht, den Tsukuru hat sich in die zwei Jahre ältere Sara verliebt. Sie sieht den Schatten der verlorenen Freunde auf seiner Seele und möchte, das Tsukuru die in Erfahrung bringt, warum er so einfach von seinen Freunden ausgeschlossen wurde. Dafür soll er zurück nach Nagoya reisen und mit allen von ihnen reden. „Haruki Murakami – Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ weiterlesen

Stefan Zweig – Ungeduld des Herzens

In den Tiefen der Bibliothek meiner Eltern finden sich diverse Klassiker der Literatur und es erstaunt mich immer wieder, wie sehr mein Buchgeschmack so ganz anders geprägt ist und wie lange ich brauchte, um einige dieser Klassiker für mich zu entdecken. Darunter auch ein 1971 gedrucktes Exemplar von Stefan Zweigs schon 1939 erschienen Romans „Ungeduld des Herzens“. Allein dieses kleine Büchlein vom Aufbau Verlag, das tatsächlich im Alter mich um einige Jahre übertrifft, in den Händen zu halten, ist ein wunderbares taktiles Erlebnis. Der Inhalt des Romans verstärkt das Wohlgefühl noch: „Stefan Zweig – Ungeduld des Herzens“ weiterlesen

Wolf Haas – Junger Mann

Im nun auch meteorologisch durchbrechenden Sommer sind Bücher die in eben dieser gerade stattfindenden Jahreszeit handeln, mit besonderem Genuss zu lesen, ob nun auf Wiesen, in Bädern, Bänken oder sonst wo. Wolf Haas 2018 erschienener und wohl autobiographisch geprägter Roman „Junger Mann“ entführt uns in den Sommer 1974 in eine Gegend des Salzburger Landes, die von der Landeshauptstadt durch einen größeren Zipfle Deutschland getrennt wird, den man das deutsche Eck nennt (es handelt sich um die Gegend um Berchtesgaden). Der hier beschriebene junge Mann ist mit 12 Jahren in der Pubertät angekommen und hat einen Sommerjob an der lokalen Tankstelle angenommen, als er zwei elementare Dinge in seinem Leben feststellt; erstens ist er zu dick und muss dringend abnehmen und zweitens hat er sich gerade zum ersten mal verliebt, allerdings in die Elsa, der Freundin von Tscho. Dieses junge Pärchen ist schon in den 20ern und während der Tscho als Fernfahrer immer mal wieder nach Teheran aufbrechen muss, bleibt die Elsa zu haus und freundet sich mit dem namenlosen jungen Mann (gleichzeitig der Ich-Erzähler des Romanes) an. „Wolf Haas – Junger Mann“ weiterlesen

David Mitchell – Der Wolkenatlas

Ich tue mich immer schwer damit, dass Buch zum Film zu lesen, wenn ich den Film schon kenne. Das gilt natürlich umso mehr, wenn das Buch nach dem Film kommt, aber auch wenn nur der Film auf einem Buch beruht, bin ich meistens nicht dazu bereit mir etwas zweifach zu rezipieren.
Im Fall von David Mitchell konnte ich da aber getrost eine Ausnahme machen, was nicht nur daran liegt, dass der Film „Cloud Atlas“ von den Wachowski Geschwistern und Tom Tykwer in meinen Erinnerungen ziemlich verschwommen ist, sondern viel mehr daran, dass ich mit Mitchell einen weiteren Autor gefunden habe, dessen Werke ich mit größtmöglicher Begeisterung lese. „Der Wolkenatlas“, welcher 2004 als sein 3.Roman veröffentlicht wurde, gilt dabei für viele Leser als sein Hauptwerk. „David Mitchell – Der Wolkenatlas“ weiterlesen

Sasa Stanisic – Wie der Soldat das Grammofon repariert

Lange habe ich keinen Roman mehr zum Neupreis gekauft. Romane haben – im Gegensatz zu Fachbüchern – einen ziemlichen Wertverfall, sind aber – ebenfalls im Gegensatz zu Fachbüchern, jedenfalls bei mir – nach einmaligen Durchlesen immer noch fast wie neu (Fachbücher müssen bei mir durchgearbeitet aussehen, angestrichen und mit Bemerkungen am Seitenrand, ich würde ein solches Fachbuch auch nie wieder aus meiner Bibliothek entlassen). Sasa Stanisics erster Roman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ gehört aber zu den Werken der Belletristik, die gebraucht nur unwesentlich unter den Neupreis geraten, weswegen ich mich für eine nigelnagelneue Ausgabe entscheid.

Alexandar wächst in der jugoslawischen Kleinstadt Visegrad auf, gelegen an der Drina, nur wenige Kilometer bevor der Fluss eine gemeinsame Grenze zwischen Bosnien und Serbien bildet. Als sein Opa Slavko stirbt, verliert Alexandar einen geliebten Menschen, der ihm die Welt erklärte. Nur wenig später scheint sich diese Welt zu verändern, als sich der jugoslawische Staat Anfang der 1990er Jahre im Krieg auflöste und die Front seine Heimatstadt erreichte. Fortan muss sich Alexandar eine heile Welt erträumen. „Sasa Stanisic – Wie der Soldat das Grammofon repariert“ weiterlesen