Paul Lynch – Jenseits der See

Aus der Reihe: aus fremden Regalen

Erschien 2019 im englischen Original als „Beyond the Sea“ | deutsche Übersetzung von Eike Schönfeld erschien 2025 bei Klett-Cotta mit 184 Seiten

Es gibt ja gute Gründe, im November in stimmungsmäßige Tiefs zu fallen – ich sage nur Novemberblues und so. Mag das Missfallen der Gesamtsituation auch temporär ein paar graue Wolken zum seelischen Durchzug bringen, so ist das eigentlich keine wirklich existentielle Krise. Diese trifft im Regelfall erst durch erhebliche Einflüsse von außen ein. Paul Lynch, der 2023 als Gewinner des Booker Prize größere Aufmerksamkeit für seinen letzten Roman „Das Lied der Propheten“ erlangte, stellte 2019 mit seinem vorhergehenden Buch „Jenseits der See“ eine Untergangshandlung vor, dessen existentialistische Krise durchaus in einer rauest möglichen Umwelt besteht, bei welcher ein dahin driftendes Boot partout nicht sinken will. „Paul Lynch – Jenseits der See“ weiterlesen

Peter Stamm – Wenn es dunkel wird

Erschien 2020 bei S.Fischer Verlag mit 196 Seiten

Am 12.Dezember um 15:58:16 Uhr geht in Dresden die Sonne unter, das ist der Tag im Jahr, an dem es am zeitigsten dunkel wird (ich musste die KI darauf hinweisen, dass sie mir zwar die richtige Quelle, aber ein falsches Datum und eine falsche Uhrzeit geliefert hat!). Das ist nicht der kürzeste Tag im Jahr (das ist natürlich der Tag der Sonnenwende am 21.12. – da haben wir Dresdner weniger als acht Stunden Tageslicht[1]), aber der Tag, an dem man am ehesten das Licht wieder anschalten muss, vielleicht zusätzlich (zur Erzielung behaglicher Atmosphäre und trotz Brandschutzrisiken) eine Kerze entzündet und sich mit einem Buch (und mittlerweile einer Lesebrille) zurückzieht. Peter Stamm liefert mit seinem 2020 erschienenen Erzählband „Wenn es dunkel wird“ dafür jedenfalls genau den richtigen Titel. „Peter Stamm – Wenn es dunkel wird“ weiterlesen

Lutz Seiler – Kruso

Erschienen 2014 bei Suhrkamp mit 488 Seiten

Im Jahr 2014, was mittlerweile schon 11 Jahre her ist, machte Lutz Seilers Debütroman „Kruso“ eine große Welle in der deutschen Literaturlandschaft. Der Roman wurde im Erscheinungsjahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, und die entsprechende Publicity spülte das Buch in jede Auslage eines halbwegs anspruchsvollen Buchladens. Sogar vier Theateradaptionen sind in den darauffolgenden Jahren aufgeführt worden. Mein zunehmendes Interesse an (ost-) deutscher Literatur brachte mich nun dazu, den Roman zu erwerben. „Lutz Seiler – Kruso“ weiterlesen

Der Schaum der Tage

Jahr: 2013 | Originaltitel: „L’écume des jours“ | Regie & Drehbuch: Michel Gondry | surrealistische Tragikomödie | Länge: 98min | Location: Paris

Irgendwie spielt mir der Algorithmus einer meiner verbliebenen Social-Media-Anbieter in letzter Zeit kleine Videos mit Erklärungen großartiger Musikvideos zu. Diese Videoschnipsel finde ich ziemlich großartig. Mir fiel dabei nicht nur auf, dass die große Zeit der Musikvideos vorbei zu sein scheint (YouTube kann MTV nur unzureichend ersetzen, hat aber andere Vorteile), sondern auch, dass es in den 1990er- und 2000er-Jahren wahre Superstars im Bereich der Regie und Ausarbeitung von Musikvideos gab. Einer davon war Michel Gondry, dessen Videos zu Protection von Massive Attack oder Around the World von Daft Punk sicherlich noch jedem bekannt sein dürften, der damals vor dem Fernseher saß, um Musik zu sehen (zur besseren Erinnerung werden beide Videos nach dem Artikel noch einmal gezeigt). Gondry legte seit den 2000er-Jahren auch einige Filme vor. Jedem Cineasten wird sich wahrscheinlich der Liebesfilm „Vergiss mein nicht! ins Gedächtnis eingebrannt haben, vielleicht auch die Filmkomödie „Abgedreht, eine Hommage an Film- und Videokunst. „Der Schaum der Tage“ weiterlesen

Junot Díaz – Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao

Erschien 2007 im amerikanischen Original „The Brief Wonderous Life of Oscar Wao“ bei Riverhead | deutsche Übersetzung von Eva Kemper 2009 bei S.Fischer erschienen mit 382 Seiten

Auf die Idee zur Lektüre von Junot Diaz bin ich über eine Liste gekommen. Diese Liste war die New York Times Top100 der besten Romane des 21. Jahrhunderts, in welcher der Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ auf Platz 11 landete. Solche Listen üben einen außerordentlichen Reiz auf mich aus, denn ich nehme an, dass an ihnen sehr belesene und von ausgesuchtem literarischem Wissen und Geschmack zusammengesetzte Kollektive von Experten mitarbeiten, die nach komplexen Diskussionen und kaum wiederlegbaren Auswahlverfahren eine einzigartige Liste zusammenstellen, die als mindestens kanonisch zu bezeichnen ist.
Nach dem Studium der Liste musste ich feststellen, dass ich nur neun der hundert aufgeführten Bücher gelesen habe – ein Umstand, der wohl einiges über den bescheidenen Stand meines kulturellen Kapitals aussagt. Als ich zusätzliche Informationen über Junot Díaz einholte (wo, wenn nicht auf Wikipedia?), stellte ich fest, dass der Roman auch den Pulitzer-Preis gewann. Die Einsicht in die Preisträger der letzten 25 Jahre brachte mir wiederum die Erkenntnis, dass ich teilweise nicht einmal die Autoren kannte, die den Preis in der Kategorie „Best Fiction“ erhielten – und tatsächlich habe ich bisher nur zwei der 25 Werke gelesen. Man kann also sagen, dass eine Literaturbeilage für mich einen größeren Wert hat als ein hübscher Buchrücken (der natürlich ebenfalls begeistern kann). Allerdings hat sie auch die unangenehme Eigenschaft, mir vor Augen zu führen, dass die Welt in ihrer Größe, Vielfalt und Schönheit zu einem kaum fassbaren Gegenstand geworden ist. „Junot Díaz – Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ weiterlesen

Ryūichi Sakamoto Coda

Jahr: 2017 | Regie: Stephen Nomura Schible | Dokumentation | Länge: 101min

Ryūichi Sakamoto ist mir schon mehrfach musikalisch begegnet, aber wirklich auseinandergesetzt habe ich mich mit seiner Musik kaum, so ist an mir auch vorbeigegangen das der japanische Komponist im Jahr 2023 starb. Dem ein oder anderen ist Sakamoto vielleicht für seine vielen Soundtracks in Erinnerung geblieben, unter anderem zu „The Revenant“, einem Film der epischen Bilder mit wundervoller Musik von Sakamoto vereint (aber eine sehr übersichtliche Story hat). In der rechten Spalte habe ich das musikalische Hauptmotiv für Sie verlinkt. „Ryūichi Sakamoto Coda“ weiterlesen

One Battle After Another

Regie & Drehbuch: Paul Thomas Anderson | Jahr: 2025 | Spielfilm | Länge: 162min |

Es gibt verschiedene Dinge, die mich schnell einfangen. Dazu gehört zum Beispiel, wenn man mir erzählt, dass ein Film auf einer Romanvorlage von Thomas Pynchon basiert. Paul Thomas Anderson, der 2014 schon Pynchons „Inherent Vice“ verfilmte, nahm sich nun Pynchons Roman „Vineland“ als Filmvorlage für seinen neuesten Film „One Battle After Another“, der gerade in den Kinos läuft. „One Battle After Another“ weiterlesen

Christian Kracht – Air

Erschien 2025 bei Kiepenheuer & Witsch mit 224 Seiten

Aus der Reihe: aus fremden Regalen

Der neue Kracht liegt vor mir. Ein wunderschönes Buch, ein hervorragendes Cover auf dem Schutzumschlag, die drei Buchstaben in ausgewählten Lettern verzieren den Einband. Wieder dieses Format von 21 mal 14,5 cm, das ich schon bei Lethem so gemocht habe. Es fühlt sich wie ein Privileg an, dass Buch lesen zu können, weil Inhalt vielleicht mit Haptik korrespondieren könnte.[1] Ich starte zu lesen und Hoch über den Wolken Frankreichs erfahre ich,[2] dass ein von mir gern gehörter Podcast eine eigene Episode dem Roman gewidmet hat.[3] Das muss ein bedeutendes Buch sein. „Christian Kracht – Air“ weiterlesen

Grey Gardens

Regie & Drehbuch: Michael Sucsy | Jahr: 2009 | Bio-Pic Drama | 104min

„Grey Gardens“ ist ein Spielfilm des Anbieters HBO von Michael Sucsy, der wiederum auf einen Dokumentarfilm referiert, welcher 1975 veröffentlicht wurde und zu einer der besten Dokus des 20. Jahrhunderts zählen soll (mehr kann ich dazu nicht sagen, da ich diese Dokumentation noch nicht gesehen haben). Darin geht es um eine ältere Frau, Big Edie Bouvier (Jessica Lange) und ihre ebenso in die Jahre gekommene Tochter „Little Edie“ (Drew Barrymore), die in den wohlbegüterten Hamptons in ihrem heruntergekommenen Anwesen residieren und die insbesondere für die Nachbarschaft wunderlich erscheinen, die aber einen markanten Anziehungspunkt der Aufmerksamkeit haben. Sie sind eng mit der ehemaligen First Lady Jackie Kennedy (Jeannie Tripplehorn) verwandt. „Grey Gardens“ weiterlesen

Wolf Haas – Wackelkontakt

Erschien 2025 bei Carl Hanser mit 240 Seiten

Sich selbst Geschenke zu machen, hat den entscheidenden Vorteil, dass man sich nichts Falsches schenken kann – und so schenkte ich mir zum Geburtstag den neuen Roman von Wolf Haas. Haas legte Anfang des Jahres sein neuestes Buch vor. Es ist ein Werk, das von den Bildern M. C. Eschers geprägt zu sein scheint. Ich muss Ihnen das sicherlich nicht erklären, geneigter, der Kunstwelt zugetaner Leser, aber Eschers Bildwelten waren immer Ausflüge in eigentümliche gestalterische Paradoxien, die Sehgewohnheiten infrage stellten. „Wackelkontakt“ könnte man als die Romanform von Eschers Lithografie „Drawing Hands“[1] sehen, und wie die Zeichnungen des Niederländers ist auch Haas’ Romankonstruktion ein intelligenter Genuss. „Wolf Haas – Wackelkontakt“ weiterlesen