Aus der Reihe: aus fremden Regalen
Erschien 2021 bei S.Fischer Verlag mit 190 Seiten
Ich stelle zunehmend fest, dass mich die Romane und Erzählungen des Schweizers Peter Stamm auch auf einer weiteren Ebene interessieren. Neben seiner klaren Sprache und seiner realistischen, aber stets ruhigen und angenehm unspektakulären Erzählweise haben seine Geschichten eine Tiefe, die aus seinen Texten eine Fundgrube über Weltsichten und das Leben an sich werden lässt.
In „Das Archiv der Gefühle“ begleiten wir einen Mann, der in der Mitte seiner Fünfziger ist und dessen Lebenswerk es war, ein Archiv aus Zeitungsartikeln zu füllen, streng geordnet nach Themen und Kategorien. Auch als dieses Archiv von seinem Arbeitgeber nicht mehr benötigt wird, lässt er es in seinem Haus aufstellen. Doch eine gewisse Müdigkeit macht sich beim Sammeln, Einordnen und Verwalten breit, und die Gedanken des selbstgewählten Hobby-Archivars führen immer wieder zu Franziska, seiner Jugendliebe, seiner großen Liebe, welche mittlerweile eine Karriere als Schlagerstar hinter sich gebracht hat.
Stamms Roman aus dem Jahr 2021 ist eine weitere tiefe Reflexion über das Leben. Die Figur des Archivars im Roman versucht, Ordnung zu schaffen, indem er ein System erschafft, das das Vorhandene in eine Beziehung setzt. Doch ihm wird im Verlauf der Handlung klar, dass diese Ordnungen immer nur die Welt abbilden, diese Welt aber nicht sind. Das führt zu Fragen wie der, was das Leben eigentlich ist und welche Rolle Erinnerungen spielen. Der Archivar lebt in der Erinnerung an seine Jugendfreundin Franziska, die er einmal küssen durfte und der er seine Liebe gestand, ohne dass er das Gefühl der Liebe für sie je verlor. Und hier muss man sich fragen, welche Rolle Erinnerungen im Leben spielen. Welche Rolle spielen diese durchaus sich veränderbaren Gedanken (denn Erinnerungen können sich verändern; wer weiß heute schon, ob die Erinnerung an den ersten Kuss wirklich so passiert ist, wie sie sich jetzt noch darstellt), gerade wenn sie mit objektiven Artefakten aus der Vergangenheit kontrastiert werden? (Um beim Thema zu bleiben: Was fördert die Durchsicht von Liebesbriefen zutage, die schon eingestaubt in einer Kiste tief vergraben waren? Sind diese das Aufleuchten kaum mehr nachvollziehbarer Gedanken? Oder evozieren sie wieder längst vergessene Gefühle in uns?) Was also wäre dann wahrhaftig: das, was wir beim ersten Kuss fühlten, oder die Erinnerung daran, die mit den Jahren immer weiter verschwimmt?
Letztendlich entzieht sich der Lebensfluss einer Ordnung und passiert einfach, nur wer Sinn in sein Leben bringen möchte, der braucht eine Ordnung, ein Abbild der Welt. Der benötigt eine Beziehung zwischen den Erlebnissen eines Tages. Und bei aller Sinngebung läuft man vielleicht Gefahr vor dem eigentlichen Leben wegzurennen, um im Schönen der Erinnerung und der vermeintlichen Träume zu landen, vielleicht auch weil man Angst davor hat, dass die Realität anders, vielleicht weniger rosarot sein könnte.[1] Letztendlich steht der Archivar im „Archiv der Gefühle“ vor der Sinnfrage seines Lebens – so wie jeder im mal mehr, mal weniger Leben – ob die Beibehaltung des Archives nicht den Ablauf der Dinge behindert. Peter Stamm gibt in seinem Roman eine sehr schöne Antwort darauf.
[1] Von Olaf Schubert gibt es den schönen Witz: „Der Geschlechtsverkehr hält nicht, was die Masturbation verspricht!“ und im Grunde kann man schon sagen, dass viele Gedanken und Erinnerungen zu gewissen Idealsierungen und Reinheiten neigen, die es in der real vor uns ablaufenden Welt so gar nicht gibt.