Anora

Regie & Drehbuch: Sean Baker | Jahr: 2024 | Dramedy | Länge: 139min | Location: New York City

Als ich noch Soziologie studierte (also irgendwann um und nach der Jahrtausendwende), gab es verschiedene Thesen darüber, in welchem Zustand sich unsere Gesellschaft gerade befand. Eine Diagnose war, dass unsere Gesellschaft, die aus verschiedenen Teilen mit unterschiedlichen Logiken besteht (Recht, Wirtschaft, Politik, Familie, Liebe …), zunehmend von einer wirtschaftlichen Logik durchdrungen wird. Anders gesagt: Die Logik der Wirtschaft schien mehr und mehr alle Bereiche der Gesellschaft zu erobern, und diese wurden vom ökonomischen Denken immer stärker unterjocht.
Sean Baker erzählt in seinem Film „Anora“ eine Geschichte, die dieser Diagnose irgendwie nahekommt – was ich im Folgenden für Sie, geneigter Leser, zu beschreiben versuche.

Ani, die eigentlich Anora heißt (Mikey Madison), ist Strip-Tänzerin in einem New Yorker Etablissement. Eines schönen Arbeitstages trifft sie auf den Oligarchensohn Ivan (Mark Ejdelschtejn), der sich ein wenig in Ani verguckt und ihre Dienste zunehmend in Anspruch nimmt. Schließlich bucht er sie zum ausgehandelten Wochenpreis für 15.000 $ (man erinnert sich ein wenig an „Pretty Woman“, allerdings wird von Ani der Unterschied zwischen Prostitution und Strip-Tanz betont). Ani ist sichtlich angetan vom Reichtum, den Ivan repräsentiert. Jedoch passiert außer Sex, Drogen, Partys und Alkohol nicht viel in den folgenden Tagen (manchen Leuten soll das ja genügen). Spontan reisen sie mit Freunden nach Las Vegas, und Ivan erklärt ihr, dass er zurück nach Russland müsse, um bei seinem Vater mitzuarbeiten. In einer Schnapsidee beschließen beide zu heiraten, damit Ivan Unabhängigkeit erlangt, Amerikaner wird und aus dem starren Käfig seiner Familie entweichen kann. Das wiederum setzt Toros (Karren Karagulian) in Bewegung, der eigentlich Priester ist, aber seine Funktion als Aufpasser für Ivan die weitaus wichtigere Rolle in seinem Leben spielt. Seine beiden Gehilfen, Igor (Yuri Borissov) und Garnik (Watsche Towmasjan), fahren zum Anwesen, in dem Ivan und Ani nun als frischgebackenes Ehepaar residieren, um die neuen Lebensumstände genau zu eruieren.

Die mir lange unbekannte Genrebezeichnung „Dramedy“ passt bei „Anora“ von Sean Baker perfekt, denn wir sind Zeugen einer eigentlich dramatischen Geschichte, die immer wieder mit Humor und teilweise auch Klamauk aufgelockert wird. In dieser Geschichte werden Rollenstereotype aufgebrochen: so haben wir russische „Aufpasser“, die eine fast schon karikierte Version der sonst in Filmen knallhart agierenden Mafiamitarbeiter darstellen. Nur Toros, bei dem man nicht weiß, ob Priester nur ein Nebenerwerb für ihn ist, durchbricht die Lethargie und ist eine wunderbar komische Figur – ein älterer Mann, der die Welt der jungen Leute nicht mehr versteht (wunderbar seine Tirade gegen TikTok und Sneakers!). Das ist nicht verwunderlich, denn die jungen Leute (insbesondere sein Schützling Ivan) haben jeden Bezug zu ökonomischen Realitäten vollständig verloren.

Fast schon spielerisch führt „Anora“ in Fragen nach Macht und Gewalt ein, hier in einer Konfrontation von Frau gegen Mann sowie Reich gegen Arm. Der Film befreit sich jedoch vom Klischee einer einzelnen jungen Frau, die sich gegen eine harte Männerwelt durchsetzen will, denn letztendlich ist Anis Endgegnerin wieder eine Frau. Auch ist der Film keine Geschichte wie „Romeo und Julia“, denn es geht nicht um die Durchsetzung einer romantischen Liebe gegenüber einer machthungrigen Familie. Ani ist kein wirklich süßes Mädchen auf der Suche nach der großen Liebe, sondern eine junge Frau, die ihre Reize für Geld einsetzt und die Ivan zwar sympathisch findet, sein potenzielles Vermögen aber noch als weitaus anziehender empfindet. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Mikey Madison hier eine herausragende Rolle spielt – eine Darstellung, die ich anfangs nicht richtig würdigen konnte, weil mir ihre Ani nicht besonders sympathisch war. Doch wie Madison diese junge Frau spielt – verbissen, teilweise sehr schroff, aber voller Träume und Hoffnungen auf ein besseres Leben –, das ist außerordentlich und wurde als beste Schauspielerin mit einem Oscar in diesem Jahr zu Recht belohnt. Allerdings gelingt es auch Madison nicht, die Längen des Films wegzuspielen, zu gern verliert sich Baker im ersten Teil des Films in ausschweifenden Szenen, um es dann in der Mitte mit dem Klamauk etwas zu übertreiben.

Damit kommen wir zum Anfangsthema dieses Beitrags zurück: Die grundlegende Thematik von „Anora“ ist, wie sich soziale Beziehungen aus der Frage von Reichtum und Macht entwickeln. Denn auch wenn es im Film vordergründig um Ehe, Individualität, Freiheit oder Familie geht, ist letztendlich nur ein Wert wirklich entscheidend – und das ist die Frage des Geldes und des Reichtums. Eine schöne Symbolisierung dafür ist, dass Ani ihren richtigen Namen – Anora – kaum mehr in ihrem Leben verwendet, sondern nur die in Striplokalen benutzte Abkürzung Ani, der Film ist aber nach ihrem „natürlichen“ Geburtsnamen betitelt. Hier stellt sich erneut die Frage, wie sehr unser Leben von wirtschaftlichen Erwägungen geprägt ist und ob dieser Einfluss immer mehr zunimmt.

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