Erschien 2019 bei S.Fischer | hier als Fischer Taschenbuch mit 624 Seiten
Ich habe soeben bemerkt, dass auf diesem bescheidenen Blog keine Möglichkeit vorhanden ist, nach Familienromanen zu suchen, was die Begrenztheit der hier vorliegenden Nullen und Einsen objektiv gut sichtbar macht. Bei Familienromanen fallen mir zumeist nur amerikanische Autoren ein, allen voran natürlich Jonathan Franzen. Meine Freude war daher groß, als ich im Zuge des vergnüglichen Drangs der Abarbeitung eigener Leselisten, auf die sich besonders Autoren drängen, von denen ich meine, viel von ihnen lesen zu wollen, einen Familienroman von Alexander Osang fand. Ich muss Ihnen – geneigter Leser – nicht nochmal erklären, dass Osang seit einiger Zeit zu meinen Lieblingsautoren gehört, nicht nur, weil er brillant und humorvoll schreibt, sondern weil mir seine Erzählperspektive – qua gemeinsamer Herkunft – sehr gefällt. In seinem (5.) Roman porträtiert er ein ganzes Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland.
Jelena ist noch nicht mal drei Jahre alt, als ihr Vater in Gorbatschow, einer kleinen Stadt in der Nähe von Nischni Nowgorod, von einem Mob umgebracht wird, wahrscheinlich nur, weil er die rote Fahne schwenkte. Jelena, ihr Bruder Sascha und ihre Mutter flüchten und kommen nach der kommunistischen Revolution zurück in das Städtchen, wo ein Schauprozess zur Ahndung des Verbrechens stattfindet. Verhandlung und Urteil sind für Jelena nicht überzeugend, und ihr Wunsch verstärkt sich, den Ort zu verlassen, so wie das Wasser der Oka, das einfach davonfließt nach Nischni Nowgorod und dort in die Wolga mündet. Und genauso zieht sich ihr Leben durch Ost- und Mitteleuropa von 1902 bis 1995, durch Länder, ideologische Systeme und Kriege.
2017, lange nach Jelenas Tod, widmet sich Konstantin, ihr Enkel, dem Leben seiner Großmutter. Er ist Drehbuchautor und sucht nach seinem Thema, das er eigentlich woanders gefunden zu haben scheint. Doch tief in ihm treibt ihn seine auseinandergefranste Familie an, in der jeder seinen eigenen Weg gegangen ist und wo der Begriff Familie nur für das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte benutzt wird.
„Die Leben der Elena Silber“ ist ein Familienroman, der mich auf vielen Ebenen fasziniert. Er ist ein Porträt des – man kann es nicht anders sagen – teilweise grausamen 20. Jahrhunderts und des Findens des eigenen Weges in einem Jahrhundert, das so viele Menschen einfach irgendwo hintreibt, so wie ein Papierflieger, der in einen Fluss gefallen ist. Genau dieses Flussbild wird von Osang immer wieder benutzt, auch als Reflexionsebene für das, was wir Heimat nennen. Jelena kommt von Fluss zu Fluss, treibt weiter, wie das Wasser, das in jenen Momenten, in denen ich diesen Text schreibe, mit der Elbe aus Böhmen kommend durch Sachsen gen Nordsee fließt.
Jelenas Leben ist einerseits vom Bedürfnis geprägt, das eigene Leben bestmöglich in die Hand zu nehmen, doch auf der anderen Seite scheint dies in eine Heimatlosigkeit zu münden. Eine Heimatlosigkeit, die bedingt ist durch Sprache, durch die Umstände der Welt und ihrer Reaktion darauf und durch das Miteinander und Gegeneinander. Jelena Silber lebt ein Leben, das ebenso spektakulär wie unspektakulär ist, ein Leben, das sie ihren fünf Töchtern widmet, nur um auf ganz unterschiedlichen Arten zu sehen, wie nah und fern man der eigenen Familie sein kann.
Dieses Gefühl der Ferne scheint der Antrieb zu sein, den Konstantin hat, um herauszufinden, warum seine Familie ihm diesen auseinandergedrifteten Weg beschritten hat. Es ist weniger eine Suche nach den wahren Fakten hinter den Geschichten seiner Familie, als eine Suche nach den Ursachen, warum es sich heute so anfühlt, wie es sich anfühlt.
Osang liefert nicht nur einen spannenden Familienroman, weil es ihm gerade nicht um die Aufdeckung der letzten Familiengeheimnisse geht, sondern weil er den Lauf des Lebens skizziert, von den Ecken und Kanten des Lebens, vom Miteinander und vom Zerfallen des Miteinanders, von den kleinen und den großen Schmerzen im Leben, aber auch von der Liebe und den kleinen Freuden. Eine Stärke des Textes iegt auch darin begründet, dass „Die Leben der Elena Silber“ immer wieder auf die unterschiedlichen Geschichten eingeht, welche in der Familie herumgehen, um die eigene Position zu erklären. Und das alles im zeitlichen Kontext des 20. Jahrhundert in zwei der wichtigsten Länder dieser Epoche; Russland und Deutschland.