Paul Lynch – Jenseits der See

Aus der Reihe: aus fremden Regalen

Erschien 2019 im englischen Original als „Beyond the Sea“ | deutsche Übersetzung von Eike Schönfeld erschien 2025 bei Klett-Cotta mit 184 Seiten

Es gibt ja gute Gründe, im November in stimmungsmäßige Tiefs zu fallen – ich sage nur Novemberblues und so. Mag das Missfallen der Gesamtsituation auch temporär ein paar graue Wolken zum seelischen Durchzug bringen, so ist das eigentlich keine wirklich existentielle Krise. Diese trifft im Regelfall erst durch erhebliche Einflüsse von außen ein. Paul Lynch, der 2023 als Gewinner des Booker Prize größere Aufmerksamkeit für seinen letzten Roman „Das Lied der Propheten“ erlangte, stellte 2019 mit seinem vorhergehenden Buch „Jenseits der See“ eine Untergangshandlung vor, dessen existentialistische Krise durchaus in einer rauest möglichen Umwelt besteht, bei welcher ein dahin driftendes Boot partout nicht sinken will.

Bolívar, ein mexikanischer Fischer, muss dringend seiner Tätigkeit nachgehen und auf den Ozean fahren. Leider ist sein Partner nicht verfügbar, und er muss sich mit dem jungen Gehilfen Héctor zufriedengeben. Dieser wird jedoch misstrauisch, als klar wird, dass ein Sturm aufzieht und der Einsatz ein sehr gefährliches Unterfangen werden könnte. Doch Bolívar überredet ihn, und beide fahren weit hinaus auf den Pazifik. Und dann passiert, was passieren muss: Der Sturm ist unbändig und macht das Fischerboot zu einer immobilen Insel, die den Strömungen und Unbilden des großen, unendlichen Meeres ausgesetzt ist. Ein Drama von existenziellem Ausmaß beginnt für die beiden.

Den Begriff „Kammerspiel“ gibt es eigentlich nur im Bereich des Schauspiels, und er würde hervorragend passen, wenn dieser Roman verfilmt würde – obwohl der Schauplatz das ganze Gegenteil einer Kammer ist. Es ist eine winzige Nussschale, die auf dem endlosen Ozean treibt. Dem Willen und den Zufällen des Meeres sind die beiden Figuren ausgesetzt. Kommt Regen oder Trockenheit, gibt es etwas zu essen, das man fangen könnte, wird nützlicher Müll angespült? Doch diese Ereignisse bilden nur den Rahmen für die zunehmend existenzielleren Gedanken und Dialoge der beiden Figuren, die ebenso körperlich wie seelisch um ihre Existenz kämpfen. Lynch beschreibt dies eindringlich, und je weiter man im Buch fortschreitet, desto größer wird der Fiebertraum. Realität und Albtraum verwischen sich; Vorstellungen der Vergangenheit und einer zukünftigen Rettung überlagern den Gedankenfluss. Das liest sich nicht immer leicht, ist aber sehr eindrücklich geschrieben, wenngleich ich betonen muss, dass Lynch hier die richtige Länge findet. Denn immer wieder ertappte ich mich beim Gedanken: Viel länger halte ich diesen Albtraum kaum aus.“
„Jenseits der See“ ist ein existenzialistisches Drama, für das man ein gewisses Genre-Faible mitbringen muss. Gleichwohl lässt es mich zurück im Gefühl, mehr vom irischen Booker-Prize-Gewinner zu lesen.

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