Erschien 2017 bei Aufbau | hier vorliegend als Aufbau Taschenbuch mit 240 Seiten
Das Weihnachtsfest rückt immer näher, und für gewöhnlich ist die Adventszeit mit allerlei Besorgungen verbunden, damit das Fest etwas ganz Besonderes wird und man dann in besinnliche Weihnachtsstimmung abdriftet. Soweit die Idee, die nicht immer in der Realität umzusetzen ist. Eine Maßnahme, um die atmosphärischen Schwingungen des heiligen Festes besser aufzunehmen, sind Alexander Osangs 14 Weihnachtsgeschichten, die im Band „Winterschwimmer“ zu finden sind. Sie erinnern einen nicht nur daran, dass der 24.12. doch irgendwie ein besonderer Tag ist, sondern funktionieren vor allem als wundervolle Kurzgeschichten, die eine Menge über das Leben aussagen.
In „Ein Lächeln kostet nichts“ wird die Frage nach Heimat, der eigenen Wohnung und der eigenen Geschichte beleuchtet – und zwar am Beispiel eines Immobilienmaklers, den man als eine Art „Wohnnomaden“ bezeichnen könnte.
„Weißenseer Wölfe“ gibt einen Blick auf das gutbürgerliche Nachbarschaftsleben frei, geprägt von Manieren, sozialem Standing und Konformitäten, die jedoch beim Wettbewerb um den besten Weihnachtsbaum auf die Probe gestellt werden.
„Schneekönigin“ thematisiert die Frage der Herkunft bei einer luxuriösen Weihnachtsfeier auf einem Schloss mitten in Brandenburg.
„Tod eines Fernreisenden“ ist eine Familiengeschichte, die uns fragt, was das Leben und unsere Bindungen ausmacht: Bringt der Tod das Vermächtnis unserer letzten Tage mit oder ist er eine Zusammenfassung unseres Lebens?
„Die Kette“ ist eine Farce, die zeigt, dass es manchmal doch besser sein könnte, auf der Betriebsweihnachtsfeier eine Affäre zu beginnen.
„Weißes Rauschen“ handelt von einem Radiomoderator, der eine Weihnachts-Call-in-Show moderiert und vor der Frage nach Authentizität steht – eine Frage, die sich zu Weihnachten vielleicht noch dringender stellt als im Alltag.
„Die blaue Linie“ erzählt von einer Weihnachtsnacht im Altersheim, geprägt von Tod, Abschied und Neuanfang.
„Drei deutsche Eichen“ beschreibt das Fest in einer deutschen Siedlerkolonie in Florida und die Frage, wie heimatlich man es in der Fremde haben möchte. Es ist eine Geschichte der Ferne und der Entfremdung.
„Der Sprecher“ ist eine wundervoll humorvolle Geschichte über Reden und Schweigen und die dabei entstehenden Missverständnisse im Leben – und über die Dinge, die man von anderen zu wissen meint.
„Hinter Glas“ beschreibt ein großartig kreatives Reisebüro, dessen Kunden sich leider nur in der Vorstellung existieren, da sie in der Realität nicht auffindbar sind.
„Balu“ erzählt vom langsamen Altwerden, von Familie und Freunden, Verpflichtungen und Schuldgefühlen, aber auch von der Hingabe zu einem Menschen – und letztlich von einem Weihnachtswunder.
„Schneeflöckchen“ schildert den letzten Tag vor Weihnachten in einer großen Bank, an dem eine leitende Angestellte feststellen muss, dass ihre Chefs Spinner, Heuchler oder beides sind.
„Winterschwimmer“ handelt von einem Sonderverkauf eines Sauna-, Solarium- und Poolverkäufers, der allein in der Weite Vorpommerns mit seinem Laden zurückgeblieben ist und sein Leben Revue passieren lässt.
Die finale Geschichte „Unsichtbar“ gehört zu den besten der allesamt großartigen Kurzgeschichten. Sie beschreibt, wie ein Spitzenmanager nach vielen Jahren verkleidet als Weihnachtsmann an der Bescherung seiner alten Familie teilnimmt – eine Geschichte über vergangene Lebensentwürfe, die Menschen, die man zurückließ, und die Leben, die man nicht lebte.
Osangs 14 Kurzgeschichten funktionieren nicht nur zur Weihnachtszeit (aber dort umso mehr – ich habe mir vorgenommen, eine davon in diesem Jahr unter dem Weihnachtsbaum vorzulesen). Die Folie des Weihnachtsfestes, das uns zur Ruhe kommen lassen soll, weil es aus dem Alltag ausbricht (wobei uns dieses Zur-Ruhe-Kommen natürlich auch stresst, denn – um Loriot zu zitieren – es gibt immer diverse Aufgaben, die abzuarbeiten sind, bevor es gemütlich wird), lässt sich als Besinnung auf die Fragen des Lebens lesen. Und diese Fragen gelten zu jeder Zeit, nicht nur in der letzten Woche des Jahres.
Osang verhandelt diese Fragen in einer weihnachtlichen Atmosphäre, geprägt von Einsamkeit, Familie und Hoffnung, von Selbstreflexion und Authentizität. Er erzählt vom Baumschlagen im brandenburgischen Forst, vom letzten Licht der Büros vor den Feiertagen, von der Ferne Floridas und Thailands und der Nähe des Berliner Kiezes. Immer wieder tauchen (Weihnachts-)Lieder in seinen Texten auf – ich war leider zu faul, sie mir bei meinem Musikanbieter herunterzuladen und nebenher anzuhören. Während Osangs Figuren versuchen, ihr eigenes Leben und die Weihnachtsfeiertage zu ordnen, bleibt der Leser zurück und freut sich schon auf die Feiertage – mit einem heiter-melancholischen Gefühl von Besinnlichkeit.