Erschien 2025 bei Kiepenheuer & Witsch mit 224 Seiten
Aus der Reihe: aus fremden Regalen
Der neue Kracht liegt vor mir. Ein wunderschönes Buch, ein hervorragendes Cover auf dem Schutzumschlag, die drei Buchstaben in ausgewählten Lettern verzieren den Einband. Wieder dieses Format von 21 mal 14,5 cm, das ich schon bei Lethem so gemocht habe. Es fühlt sich wie ein Privileg an, dass Buch lesen zu können, weil Inhalt vielleicht mit Haptik korrespondieren könnte.[1] Ich starte zu lesen und Hoch über den Wolken Frankreichs erfahre ich,[2] dass ein von mir gern gehörter Podcast eine eigene Episode dem Roman gewidmet hat.[3] Das muss ein bedeutendes Buch sein.
Paul ist Innenausstatter und lebt auf den Orkney-Inseln, die sich der nördlichsten Spitze des Festlands von Schottland anschließen. Ihm gefällt der nördliche Look, die Einfachheit, die handwerkliche Eleganz, das Zurückgeworfen-Sein auf lokale Dinge. Das Massenhafte ist ausgeschlossen, der genau richtige Ton der Farbe und der Form zählt. Für einen großen Auftrag wird er nach Stavangar / Norwegen gerufen, um dort die größte Serverhalle der Welt zu weißen, perfekt zu weißen.
GEGENSCHNITT
In einer Fantasywelt lebt Ildr. Alles ist grün, voller Leben, voller Gefahren. Eine gelbe Seuche entreißt den Menschen das Leben und wenn es die Krankheit nicht schafft, dann ist da noch der grausame Herzog, der seine Untertanen terrorisiert. Die neunjährige Ildr hat gerade erst ihre Mutter an die Seuche verloren und ihren Vater wohl vor langer Zeit an die Grausamkeiten des Herzogs. Sie ist auf sich allein gestellt und versucht ein Reh mit Pfeil und Bogen zu jagen, sie schießt ins Dickicht hinein und trifft! Doch ihr Opfer ist ein Mensch, ein Fremder. Sie hilft dem Schwerverletzten und muss feststellen, dass dieser Mann aus einer anderen Welt kommt. Der Mann erholt sich, scheint aber von den Schergen des Herzogs gesucht zu werden. Schnell sehen sich die beiden dazu gezwungen die kärgliche Hütte, die Ildr ihr Heim nennt zu verlassen, um nach Süden aufzubrechen, wo es immer kälter wird, sie aber auf die Steinstadt treffen werden.
„Air“ ist ein außergewöhnliches Buch. Inhaltlich ist die Story nicht wirklich herausfordernd und verknüpft eine gegenwärtige Welt, mit einer Fantasy Welt. In der gegenwärtigen Welt leben wir in einer postmodernen Atmosphäre von Hightech und Digitalität, von Vermassung, aber eben auch von bewusster Reduzierung auf Ursprünglichkeit, als eine Art von Gegenbewegung darauf.[4] Wir leben in unseren digitalen Zeiten des nicht mehr Greifbaren und der gleichzeitigen Bewusstwerdung der Güte alles Greifbaren, das nicht mehr maschinell, sondern handwerklich geformt ist.
Diese Gegenwart unserer Tage wird bei Kracht kontrastiert mit einer Fantasywelt, deren technische Entwicklung etwas an das Mittelalter erinnert. Hier scheint alles von der Güte des Handwerks abzuhängen, oder um es negativ zu sagen, hier ist nichts da, was dem menschlichen Leben einen technischen Mehrwert geben könnte. Es wirkt fast wie eine Wunschwelt viele moderner Technikkritiker und wie sehr Kracht davon entfernt ist, diese Welt zu feiern, zeigt sich an der Wundversorgung des vom Pfeil getroffenen Fremden, der tunlichst darauf achtet, all sein Wissen und seine noch vorhandene Medizin zum eigenen Überleben einzusetzen. Innerhalb dieser Fantasy-Welt gibt es wiederum zwei Orte, die sich kontrastieren, eine grüne Welt voller biologischem Leben, aber auch voll Unordnung und Tod und eine geordnete, saubere und kalte Steinstadt. Das Leben hier wirkt eigentümlich eingeschränkt, aber gesellschaftlich harmonisch, ja ansatzweise fast kommunistisch. Diese Welt erinnert (mich) ein ganz klein wenig an die Post-Maschinelle-Welt von Lethems „Stillstand“ und man fragt sich bei Kracht, ist das seine Version einer guten Zukunft, seiner Utopie heraus aus der Massengesellschaft mit Klimakatastrophe und dem Niedergang politischer Beteiligungssysteme? Kracht würde selbstverständlich nie konkret auf so eine Interpretation antworten, denn die große Stärke seiner Bücher, die auch „Air“ auszeichnet, ist es einen semiotischen Überschuss des Textes zu erzeugen, der zu einem intertextuellen Feuerwerk führt, dass man als Leser nie vollständig kontrollieren oder durchinterpretieren kann. Daraus entsteht ein großartiges Buch, dessen Tiefe nicht in der Komplexität und Verknüpftheit von Erzählebenen des Textes liegt, sondern in den weiten der Vorstellungswelten, Atmosphären und unseren möglichen Interpretationen als Leser, die Kracht mit „Air“ liefert, egal ob man dieses Buch als Abrechnung oder Kritik mit der digitalen Moderne liest, als zeitgenössische Ausformulierung einer Post-Apokalyptischen Technikmoderne oder als Text über die Notwendigkeit ständiger Sinnsuche (hier auch als Gesellschaft, nicht nur als Individuum). Man kommt nicht darum herum, hier eine große Meisterschaft zu erkennen, einen Text der sowohl zeitkritisch als eben auch zeitlos ist.
[1] Normalerweise sind mir Romane, wenn sie frisch erscheinen zu teuer, selbst als Taschenbuch versuche ich noch ein günstigeres Angebot zu bekommen. In diesem Fall hatte ich aber das große Glück es mir ausleihen zu können und stelle mir die Frage, ob meine Knausrigkeit meine Wertschätzung zu Büchern nicht konterkariert.
[2] Ich kann im Flugzeug nicht lesen, dafür fehlt mir leider die Ruhe und Gelassenheit, wenn diese Aluschalen in 40.000 Fuß Höhe durch die Lüfte brausen. So höre ich im Flugzeug gern Podcasts an.
[3] Hier der Link: https://www.zeit.de/kultur/2025-03/christian-kracht-air-feuilleton-podcast
[4] Im Podcast „Der sogenannten Gegenwart“ wird auf das Restaurant Noma verwiesen, was 2010 in aller Munde war, weil es nur regionale Zutaten für raffinierte Gaumenfreuden verwendet und diese handwerklich so speziell zubereitete, dass es das beste Restaurant der Welt wurde.