Erschien 2020 im amerikanischen Original als „The Arrest“ bei HarperCollins | deutsche Übersetzung von Ulrich Blumenbach 2024 bei Tropen mit 328 Seiten
Jonathan Lethem gehört zu den großen amerikanischen Romanautoren, die etwas zu selten auf meiner Leseliste auftauchen. Nachdem mir „Chronic City“ als wundervoller Roman in Erinnerung geblieben ist, wollte ich mit „Der Stillstand“ einen Teil meines Freibadsommers verbringen.
Journeyman ist ein Bote in einer kleinen Kolonie aus Farmen und Städtchen. Wir befinden uns in einer postapokalyptischen Zeit, in der Maschinen nicht mehr funktionieren – oder anders formuliert: zum Stillstand gekommen sind. Die Menschen haben den Kontakt zur weiteren Welt verloren und sind auf ihren unmittelbaren Umkreis angewiesen, die Globalisierung ist Geschichte geworden. Man betreibt Landwirtschaft und lebt in kleinen kommunalen Verbänden. Ob der Stillstand die ganze Welt getroffen hat und wie es anderen Menschen auf dieser Welt ergeht, ist vollkommen unklar – genauso wie die Ursache dieses Stillstands. Als Journeyman eines Tages einen seiner Botengänge erledigt, trifft er auf eine gigantische Fortbewegungsmaschine, den Blue Streak. Dieses Monstrum hat sich auf den Weg von Los Angeles an die Ostküste gemacht und wird gefahren von einem Hollywood-Manager namens Todbaume. Dieser ist ein ehemaliger Freund von Journeyman aus gemeinsamen Zeiten in Hollywood, als beide ein großes Projekt verfolgten: eine Serie namens „Noch eine Welt“ zu schreiben. Diese damals erdachte Serie wurde jedoch nie gedreht. Vielmehr ist sie mehr oder weniger in der erdachten Form nun zur Realität geworden, und Todbaume sucht Journeymans Schwester Maddy. Diese gab vor vielen Jahren, als es noch keinen Stillstand gab, einen entscheidenden Impuls für die Story. Maddy, mittlerweile so etwas wie die Bürgermeisterin der kleinen Kolonie, ist jedoch höchst zurückhaltend und will Todbaume nicht sehen. Währenddessen haben die Nachbarn der Kolonie, die eher kämpferischen Kordonisten, ein Auge auf den Blue Streak geworfen.
Beim Roman „Der Stillstand“ muss ich zunächst auf einen ästhetischen Nebenschauplatz aufmerksam machen, den ich normalerweise gern vernachlässige: die mir vorliegende Hardcover-Ausgabe von Tropen ist eines der ansprechendsten Bücher, die ich dieses Jahr in der Hand hatte. Format, Schrift-größe und -art sowie die Gestaltung des Einbands – alles ist sehr gelungen. Ein Buch, das man gerne aufgrund seiner Äußerlichkeiten liest.
Die Story beginnt auch ziemlich spannend. Lethems Idee einer Postapokalypse, bei der die Welt, wie wir sie kennen, irgendwann einfach stillsteht – das Internet, Telefon, Strom, Waffen oder Kreditkarten funktionieren nicht mehr –, ist eigentlich gar nicht so außergewöhnlich. Wenn man sich beispielsweise an die großen Probleme der Lieferketten erinnert, die mit und nach der COVID-19-Pandemie auftraten, erscheint dieses Szenario als Ende der Moderne zwar drastisch, aber nicht unrealistisch. Doch der Roman fokussiert sich weniger auf die Apokalypse selbst, sondern ist eher ein Kammerspiel in einer Dreipersonen-Konstellation: Auf der einen Seite der Hauptheld Journeyman, ein von allen Seiten benutzter und getriebener Mann, der auf fast schon eigentümliche Weise blass und facettenlos bleibt. Dann sein einst bester Freund Todbaume, ein Schwätzer, Menschenfänger, Egomane und Gernegroß – ein Individualist in einer neuen Gesellschaftsform, die radikal auf das Kollektive umgestellt hat. Und schließlich Maddy, Journeymans Schwester, die eine nicht näher zu ergründende Feindschaft gegenüber Todbaume entwickelt hat (bei einem Besuch in Hollywood noch vor dem Stillstand). Sie ist nun so etwas wie der im Hintergrund prozessierende Antrieb der kollektiven Dorfgemeinschaft.
Keine der handelnden Personen wird beim Lesen auch nur annähernd sympathisch, was nicht schlimm sein muss. Hier führt es jedoch dazu, dass einem der weitere Verlauf der Handlung nicht wirklich interessiert.
Auch interpretatorisch sperrt sich der Roman etwas. Vielleicht könnte man mit der Vorstellung aufräumen, dass der katastrophenaffine Zeitgeist unserer Tage, statt des großen Knalls, den wir vielleicht alle in böser Vorahnung einer Menschheitskatastrophe erwarten, ganz unmerklich kommt (oder gar schon da ist!) und dann immer lauter wird, bevor es still um uns wird. Vielleicht ist aber auch Lethems Botschaft zu betonen, dass die großen Erzählungen, wie unsere Welt funktioniert alle hinfällig sind, wenn es zurück an die Basics geht. Todbaumes Schicksal steht hier für den großen Geschichtenerzähler, den letzten freiheitlichen Individualisten, der deutlich zu verstehen bekommt, dass er trotz aller technischen Überlegenheit doch nicht mehr ist als das vergangene Leuchtfeuer früherer Möglichkeiten. Wenn Lethem damit sagen will, dass unsere Tage an einer Inflation der großen Erzählungen leidet, dann würde ich diese Aussage unterstützen. Alles scheint erzählbar geworden zu sein und gefühlte Fakten scheinen sich sogar besser zu verkaufen, als wissenschaftlich belegbare Fakten, es kommt auf die Story an, nicht auf ihre Wahrhaftigkeit. Lethem will zeigen, dass so etwas in einem Post-Maschinen-Zeitalter notwendigerweise nicht mehr funktioniert, ob dem so ist, erscheint mir fraglich.