Roberto Bolaño – Lumpenroman

Erschien 2002 im spanischen original „Una novelita lumpen“ bei Random House Mondadori Barcelona | deutsche Übersetzung von Christian Hansen bei Carl Hanser 2010 mit 112 Seiten

Durch einmal jährliches Ausmisten meines Kleiderschrankes möchte ich verhindern, dass sich die stolze Sammlung meiner über die Jahre zusammengekauften Kleidung in ein unübersichtliches Geflecht von Lumpen entwickelt. Ich habe diesbezüglich übrigens vor einiger Zeit angefangen, mir entsprechende Falttechniken im Internet anzueignen (ich verweise am Ende dieses Textes auf ein Beispiel), um meine Kleidung auch gehaltvoll und ordentlich dem eigenen Auge gegenüber zu präsentieren. Dieser optisch hübsche Anblick verdeckt aber, die der Kleidung zugrundeliegenden Produktionsprozesse, die ich – und hier dürfen Sie an meiner gesellschaftsmoralischen Integrität gern zweifeln, geneigter Leser – in vielen Fällen als schwierig bezeichnen würde, denn ich befürchte, viele der schnittigen und gar nicht so teuren Trikotagen werden unter, euphorisieren wir mal, ausbaufähigen Produktionsbedingungen hergestellt.
Karl Marx und Friedrich Engels prägten vor über 175 Jahren den Begriff des Lumpenproletariats, welcher sich auf die prekären Verhältnisse des ärmsten Teils der Arbeiterschaft bezieht. Die Arbeiter werden nicht wegen dem, was sie herstellen, Lumpenproletarier genannt, sondern wegen dem, was sie anhaben können. Zweifellos ist diese Form der Zustände hinweggefegt worden (was ich auch für die textilverarbeitenden Gewerbe in Asien sehr hoffe, wo meine Kleidung herzukommen scheint). Trotzdem ist auch in der Gegenwart der Begriff des Lumpenproletariats noch verständlich, bezieht er sich doch auf die wirtschaftlich schwächsten Kreise unserer Gesellschaft, die sich vielleicht nicht mehr in Lumpen kleiden, aber prozentual immer weiter entfernt vom Reichtum der Gesellschaft entfernt sind.

Roberto Bolaño, der viele Jahre seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsjobs, z. B. im Sommer auf einem Campingplatz in Casteldelfels (bei Barcelona), bestritt, wurde von seinem Verlag aus Barcelona eingeladen, in Romanform die Stadt Rom vorzustellen. Heraus kam ein Buch, das sich eher weniger mit Rom beschäftigt, sondern ein Geschwisterpaar vorstellt, das nach einem Autounfall der Eltern verwaist, in der italienischen Hauptstadt lebt und sich zunehmend in eine finanzielle Schieflage begibt. Dabei erzählt die Hauptheldin Bianca die Geschichte, wie sie nach dem Tod ihrer Eltern zu einer Kriminellen wurde.

„Der Lumpenroman“ bezieht sich vom Titel her auf die von ihm dargestellten Menschen, die den unteren Rand der römischen Gesellschaft ausmachen. Die beiden Geschwister sind getrieben vom finanziellen Engpass, wobei der Bruder zwielichtige Gestalten kennenlernt, welche wiederum den ehemaligen Bodybuilder und Filmstar Maciste ins Spiel bringen. Auf den knapp 100 Seiten (weshalb man wohl auch von einer Novelle sprechen kann) beschreibt Bolaño in der von ihm gewohnten sprachlichen Schärfe und seinem ureigenen Erzähltalent eine Art Coming-of-Age-Geschichte, die sich fragt, was sie vom Leben halten soll, wie sie sich in ihm verhält und wo die moralischen und ethischen Grenzen eines Lebens liegen. Wir lesen über Existenznot, Sex, Verliebtsein, Tod, Verzweiflung, aber auch über einen ungeschminkten Blick auf sich selbst. Trotz allem ist „Der Lumpenroman“ für mich ein sperriges Werk, mit dem ich weniger anfangen kann als mit Bolaños großen Romanen „Die wilden Detektive“ oder „2666“.

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