Lutz Seiler – Kruso

Erschienen 2014 bei Suhrkamp mit 488 Seiten

Im Jahr 2014, was mittlerweile schon 11 Jahre her ist, machte Lutz Seilers Debütroman „Kruso“ eine große Welle in der deutschen Literaturlandschaft. Der Roman wurde im Erscheinungsjahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, und die entsprechende Publicity spülte das Buch in jede Auslage eines halbwegs anspruchsvollen Buchladens. Sogar vier Theateradaptionen sind in den darauffolgenden Jahren aufgeführt worden. Mein zunehmendes Interesse an (ost-) deutscher Literatur brachte mich nun dazu, den Roman zu erwerben.

Ed hat von seinem Leben zu viel, er will raus. Das ist in der DDR ein nicht ganz leichtes Unterfangen, aber die Insel Hiddensee bietet so etwas wie ein Aussteiger-Paradies im geschlossenen Umfeld des ostdeutschen Staates. Über Umwege findet sich Ed in der Restauration „Zum Klausner“ hoch oben auf dem Dornbusch, an den Steilklippen der Insel wieder, wo er als Tellerwäscher eingestellt wird. Dort trifft er auf Kruso, einen russischstämmigen Kollegen, der so etwas wie der heimliche Star der Insel ist und der auf der Insel geheimnisvolle Zusammenkünfte und Unternehmungen veranstaltet. Ähnlich wie Ed plagt ihn der Verlust eines geliebten Menschen, und eine tiefe Freundschaft bahnt sich an, die jedoch unter dem Einfluss des Verlusttraumas steht. Und so beginnt der Sommer 1989, der nicht nur auf Hiddensee vieles ändern wird.

„Kruso“ ist ein thematisch sehr vielfältiges Buch. Da haben wir zum einen eine entstehende Freundschaft zwischen Ed und Kruso, wobei beide Seiten eigentümlich fasziniert von der anderen sind. Beide eint ein Trauma des Verlustes, und doch wirkt Ed so, als würde er gern alles von Kruso übernehmen, wäre dieser Freund und Vaterfigur zugleich. Kruso wiederum schätzt Eds literarische Leidenschaft, und beide werden zu einem Paar, das an Batman & Robin erinnert. Der Roman ist auch ein Buch über die DDR, wobei hier eine – oder die – Aussteigervariante eines Landes beschrieben wird, in der Aussteigen oder gar Weggehen nicht wirklich möglich war (wobei ich sagen muss, dass ich im Sommer 1989 meinen damaligen besten Freund verlor, weil der Ausreiseantrag seiner Eltern genehmigt wurde und die Familie in den Westen ging; ich dachte damals, dass ich ihn nie wiedersehen würde). Diese Alternativ-DDR ist ein etwas bizarrer Ort, der an der Grenze liegt – an der Grenze des Landes, denn von hier sind es rund 50 km Luftlinie über die Ostsee nach Dänemark, aber auch an der Grenze des politisch und gesellschaftlich in der DDR Erlaubten, die scheinbar hier etwas offener und weiter gezogen werden konnte. Spannend dabei ist auch die Beschreibung einer eigenen Welt, die im Herbst 89 genauso untergeht wie die sozialistische DDR, und dies wird in „Kruso“ durchaus als Verlust beschrieben.

Und es ist ein Buch über den Verlust von Menschen, nicht nur mit den beiden traumatischen, vermeintlichen Todesfällen geliebter Menschen, wie sie Kruso und Ed erleben mussten, wobei in beiden Fällen nie klar wird, was genau passiert ist. Es ist auch eine Geschichte über Flucht und einen Willen zur Freiheit, der mit einem abschließenden Kapitel näher unter die Lupe genommen wird. Ich muss zugeben, dass ich dieses Kapitel als etwas fremd empfand, weil es eigentümlich an den bisherigen Text angedockt wirkt und weil es die Stimmung und den Inhalt des Romans auf eine hintergründige Facette komprimiert, die darin besteht, dass es viele Menschen gab, die von Hiddensee versuchten, in den Westen zu flüchten. Auch das spielt im Roman eine Rolle, ist aber eher das Hintergrundrauschen.

Erzählerisch ist „Kruso“ sehr gepriesen worden, was nachvollziehbar ist, aber tatsächlich lässt sich der Text nicht wirklich einfach durchlesen. Gerade gegen Ende, wenn im Herbst die Zustände zu einer Art Fiebertraum werden, habe ich oft bei mir festgestellt, wie meine Gedanken einfach wegglitten. Nimmt man sich aber die Zeit und liest beispielsweise den Text laut vor, dann stellt man immer wieder fest, wie gut hier alles beschrieben ist, wie präzise Orte und Figuren beleuchtet werden. Ein Beispiel zum Protagonisten Ed:

„Niemals in dieser frühen Zeit wäre Ed auf den Gedanken gekommen, nicht selbst das Schlechte zu sein, nicht selbst das Ungenügen. An wen sonst sollte das ganze Unglück liegen?“ (S. 158–159)

Die Erzählstimme meistert es auch, eindeutige Gesten oder Interpretationen nicht anzubieten und uns als Leser in dieser abenteuerlichen Welt von Hiddensee im Sommer 89 zurückzulassen – das ist ein großes Verdienst.

„Kruso“ ist ein erzählerisch anspruchsvolles Buch, das mich ab und an überfordert hat und das bei mir große Lust darauf gemacht hat, mal wieder nach Hiddensee zu reisen (da werde ich nicht der Einzige sein). Als Buch über ostdeutsche Geschichte beleuchtet es nur einen sehr kleinen Aspekt eines Landes, das für sein Aussteigertum nicht gerade weltweiten Ruhm sammelte, und es thematisiert die Abwendung von einem Land, das seine Menschen verliert (das wiederum würde ich als ein wesentliches Merkmal der späten DDR bezeichnen). Ein Aussteigerroman, der Hiddensee als eine ganz besondere Insel in der DDR beschreibt.

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