Peter Stamm – In einer dunkelblauen Stunde

Erschien 2023 bei S.Fischer mit 254 Seiten

Wie schon vor langer Zeit an dieser Stelle erwähnt, hörte ich das erste Mal in meinem Leben von Peter Stamm bei einer Lesung. Das ist Jahre her, aber im letzten Herbst hatte ich die Möglichkeit Stamm nochmals in Dresden anzuhören, als er zwei neue Kurzgeschichten anlässlich des Literaturfestivals in der Stadt vorlas. Da wurde mir klar, dass ich einen weiteren Roman von ihm gern auf meiner Leseliste sehen würde und entschied mich für „In einer dunkelblauen Stunde“.

Andrea ist Dokumentarfilmerin und dreht gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Tom einen neuen Streifen über den Schriftsteller Richard Wechsler, der in Paris lebt und nur wenig über sich preisgibt. Als Aufnahmen in seinem Schweizer Heimatdorf gemacht werden sollen, erscheint Wechsler nicht und Andrea macht seine Jugendliebe Judith ausfindig, bei welcher vielleicht ein Motiv für die Handlung in seinen Büchern zu finden ist.

„In einer dunkelblauen Stunde“ ist eine tiefgründige Reflektion über die Kunstform des Erzählens über das Leben, wobei wir an dieser Stelle den Begriff „Erzählen“ für unsere bescheidene Erklärung recht offenhalten müssen. Er meint hier das Beschreiben der Welt, ihrer Dinge, der Emotionen, der Ideen. Es geht dem Begriff um das Aussagen, von dem was um uns passiert, dem Versuch etwas Wahrhaftes darüber zu berichten, wobei nicht unbedingt gesagt sein muss, das die erzählte Abbildung objektiv mit der physischen Realität übereinstimmen muss, so wie Gemälde nicht fotografische Reproduktionen der Gegenstände auf einer Leinwand sind, sondern der Versuch irgendetwas Dahinterliegendes zu beschreiben.[1] Bei Stamm stoßen wir auf Seite 158 auf eine Art von Definitionsbeschreibung des Gegenstandes des Romans in folgenden Sätzen:

„Heute Morgen bin ich früh aufgewacht, aber liegen geblieben. Ich lieben diese blaue Stunde zwischen Nacht und Tag, diesen Zustand zwischen Schlafen und Wachen.“

Wenn wir uns vorstellen, dass jede Erzählung wie ein Traum ist, etwas das mit der Realität zu tun hat, dass aus dieser gespeist wird, aber zu einer eigenen Wahrheit, einer eigenen Identität zusammengefügt wird, dann ist die blaue Stunde das Zwischenglied zwischen dem was uns tagtäglich passiert und dem was uns als die Wahrheit einer Erzählung erscheint. Die „dunkelblaue Stunde“ könnte man als den Moment beschreiben, in dem die Herstellung einer wahrhaften Erzählung passiert, in dem sich das, was objektiv passiert und das, was wir als wahrhaft darüber wahrnehmen zu einer Erzählung mischen.

Stamm bemüht im Roman zwei Formen der Erzählung. Auf der einen Seite den Dokumentarfilm. Andrea versucht in diesem eine eigene Geschichte zu erzählen, die den Autor Wechsler beschreibt. Szenen von Wechsler werden für den Film inszeniert; der Autor kauft ein Buch (das ihn nicht interessiert), ein Zeitzeuge des Schriftstellers wird ohne Kamera über ihn befragt, aber was er sagt, wird er so nicht vor der Kamera wiederholen. Die Dokumentation möchte etwas über ihren Gegenstand erzählen und erstellt dabei eine eigene Erzählung in Bildern, Szenen und Worten.[2] Die Dokumentation[3] versucht der Person des Schriftstellers Wechsler auf den Grund zu gehen. Doch wie sehr kommt man ihm damit nahe? So ist es folgerichtig, dass Andrea gleichzeitig auch in den Motiven des Romans nach Wechsler fahndet. Das ist die 2. Form der Erzählung in Stamms Buch, der auf seine Möglichkeiten zu erzählen untersucht wird, der Roman. „In einer dunkelblauen Stunde“ ist eine Erzählung, die über die Frage nachdenkt, wie ein Roman geschrieben wird. Vielleicht kann man so weit gehen und sagen wir haben hier Buch vor uns liegen, das künstlerisch versucht, so etwas wie eine Poetikvorlesung zu sein. An dieser Stelle könnte man fragen, ob die Figur des Schriftstellers Wechsler die Personifizierung von Stamms Schreibstil ist, sehr nüchtern und rational wirkend, aber doch tiefgründig, bewusst Dinge auslassend, nicht zu konkret beschreibend, denn hinter jedem Satz verstecken sich interpretatorische Welten.[4] Hier findet sich auch die Liebesgeschichte des Romans, wobei es sich um eine keinesfalls gewöhnliche Liebesgeschichte handelt, sondern um eine Geschichte über die Grenzen des Erzählbaren und hier ist Liebe ein hervorragendes Beispiel. Es ist etwa so, als müssten sie, geneigter Leser, ihre große Liebe zu Papier bringen und schnell würden sie feststellen, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit ist, weil es immer einen Abrieb zwischen dem was passiert und dem was darüber gesagt werden kann, gibt. Stamm erzählt eine Liebesgeschichte, die nicht nur das ist, sondern eben auch die Geschichte der Erzählung einer Liebesgeschichte. Ein Roman über die Frage der Inszenierung der Liebe, wenn man so möchte.[5]

Die Hauptheldin und Ich-Erzählerin des Romans, Andrea, ist die Person, die scheinbar eher verzweifelt nach den großen Emotionen im Leben sucht. Sie wirkt wie ein promiskuitiver Macho (nur eben als Frau), kein männlicher Partner ist für sie mittelfristig gut genug, große oder gar dauerhafte Gefühle scheinen für sie immer wieder flüchtig zu werden, wenn sie bekommt, was sie will. Das wirkt auf den Leser manchmal verstörend, manchmal unsympathisch. Aber nach und nach wird Andrea dann doch eine sehr spannende Figur auf ihrer Suche nach der Beschreibung der großen Gefühle als Motivation für Wechsler und der gleichzeitigen Detektion ihrer Momenthaftigkeit im eigenen Leben.

„In einer dunkelblauen Stunde“ überzeugt mich als Roman im Nachhinein besonders, denn es ist ein außerordentlich tiefes Werk, dass in Stamms gewohnt ruhiger Sprache dahinfließt, aber sich in die Tiefen der Reflektionen über das Erzählen des Wahrhaftigen im Leben begibt. Ich hatte mir bei Stamms Lesung den Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ signieren lassen, weil ich es für sein bestes Buch gehalten habe, bin mir aber nicht mehr sicher, ob „In einer dunkelblauen Stunde“ den Roman nicht noch toppen würde, aber letztendlich ist ein solches Bestenlisten-Einordnen egal, was wichtig ist, ist das mit „Das Archiv der Gefühle“ schon ein weiterer Roman als Leihgabe einen Aufenthalt in meiner Bibliothek hat und ich mich auf die Lektüre dieses Werkes in Vorfreude übe.

[1] Dann wird es natürlich wiederum immer komplexer. Bei realistischen und gegenständlichen Gemälden benötigt man vielleicht nur etwas Hilfe bei der Interpretation der vielen Symbole, die einen auf dem Bild erwarten, bei abstrakter Kunst steht man in seiner eigenen naiven Beobachtung vor Bildern und sieht eingeschlossene Kinder, obwohl schwimmende Erwachsene aufgemalt sind.

[2] Wahrheit sollte nicht verwechselt werden, mit der einzig richtigen Darstellung eines Sachverhaltes, es ist mehr eine Suche der nachvollziehbaren Beschreibung, die uns vom Text auf die „Substanz“ der Dinge schließen lassen. So schreibt Stamm auf Seite 80 (wie ich finde wunderschön): „Es gibt die Wahrheit der Sinne, die Empfindungen, die sie uns verschaffen, Gerüche, Geschmäcker, Berührungen, das Gefühl, die Hand über einen ausrasierten Nacken gleiten zu lassen, durch dichtes Haupthaar, eine Strähne wegzustreichen, die Wärme und die Kälte, die Weichheit und die Festigkeit.“

[3] Deren Anspruch es immer ist, wahrhafter an der Realität zu sein als das Genre des Spielfilms.

[4] Wechslers Spezialität als Figur im Roman ist es, Sätze nicht zu beenden, was alles noch unsagbarer, aber auch tiefgründiger macht.

[5] Bei der Lektüre fragte ich mich, ob einen Roman schreiben (etwas, was ich nie gemacht habe, aber von dem ich träume) so etwas ist, wie der Versuch die großen Gefühle (oder Dinge) des Lebens niederzuschreiben, um sie möglichst irgendwie in ihrer subjektiven Wahrhaftigkeit zu treffen? Ich denke Stamm würde dies bejahen.

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