Peter Stamm – Wenn es dunkel wird

Erschien 2020 bei S.Fischer Verlag mit 196 Seiten

Am 12.Dezember um 15:58:16 Uhr geht in Dresden die Sonne unter, das ist der Tag im Jahr, an dem es am zeitigsten dunkel wird (ich musste die KI darauf hinweisen, dass sie mir zwar die richtige Quelle, aber ein falsches Datum und eine falsche Uhrzeit geliefert hat!). Das ist nicht der kürzeste Tag im Jahr (das ist natürlich der Tag der Sonnenwende am 21.12. – da haben wir Dresdner weniger als acht Stunden Tageslicht[1]), aber der Tag, an dem man am ehesten das Licht wieder anschalten muss, vielleicht zusätzlich (zur Erzielung behaglicher Atmosphäre und trotz Brandschutzrisiken) eine Kerze entzündet und sich mit einem Buch (und mittlerweile einer Lesebrille) zurückzieht. Peter Stamm liefert mit seinem 2020 erschienenen Erzählband „Wenn es dunkel wird“ dafür jedenfalls genau den richtigen Titel.

Hier eine kurze Beschreibung der Kurzgeschichten. „Nahtigal“ dreht sich um die Welt möglicher Ideen, die man im Kopf hat, eine Möglichkeitswelt (würde man im „Mann ohne Eigenschaften“ vielleicht sagen), die unseren tatsächlichen Alltag kontrastiert und unsere Taten mehr oder weniger direkt antreibt. „Das schönste Kleid“ ist eine Liebesgeschichte über Attraktivität und die Frage des Beachtet-Werdens, aber auch über die Frage des Zurschaustellens, des Geheimnisvollen und von Direktheit beim Kampf um Aufmerksamkeit und Begehren. „Supermond“ ist eine atmosphärisch sehr starke Geschichte über das langsame Verschwinden aus der Welt. „Sabrina, 2019“ ist eine der schönsten Erzählungen des Bandes. Sie handelt von der Frage wie Kunst und Identität sich verbinden und wie man über Kunst zu sich selbst finden kann. „Die Frau im grünen Mantel“ erinnert thematisch an die erste Erzählung und thematisiert den Wunsch oder die Möglichkeit aus seinem Leben auszusteigen, bei allerdings gleichzeitigem realistischem Blick, dass das Leben es anders mit einem meint. „Cold Reading“ geht der Frage des Hellsehens und der Positionierung des Selbst in Fragen der Zukunftsgestaltung nach, während „der erste Schnee“ eine sehr schöne Weihnachtsgeschichte ist und uns zeigt, dass die schönsten Geschenke vielleicht gar nicht mit Geld zu bezahlen sind. „Dietrichs Knie“ wiederum ist eine Liebesgeschichte über das vermeintliche Ende eines Paars, da sich bei einem Ehepartner eine Affaire anbahnt, die der andere Partner aber bemerkt und indirekt steuert. Die dem Band den Titel gebende Erzählung, „Wenn es dunkel wird“, handelt von den Verlusten im Leben, der Rolle des Suchens und den zumeist vergeblichen Versuchen etwas zu finden.  Die beiden letzten und sehr kurzen Geschichten „Mein Blut für dich“ und „Schiffbruch“ gefallen mir etwas weniger und handeln von einer ungewöhnlichen Beziehung und einem Bankrott.

Stamms Erzählungen sind nicht alle unbedingt Wintergeschichten und der Blickwinkel der Dunkelheit spielt vielleicht eher eine symbolische Rolle, die darin besteht, dass in vielen der Geschichten der Aspekt der logischen Erzählung oder rationalen Handlungsstruktur sich manchmal auflöst. So haben die Geschichten eine gewisse magische Qualität, die einer Erklärung der Dinge der Welt vorausgehen, aber die Gefühle, Stimmungen, Faszinationen und indirekten Handlungsmuster der Figuren erklärt. Vielleicht halten die Geschichten nicht ganz das, was die letzten Romane von Stamm schaffen, sind aber trotzdem sehr schöne und kurzweilige Geschichten in der Zeit im Jahr, in dem zwei Drittel der Tageszeit dunkel sind.

[1] Siehe: https://www.timeanddate.de/sonne/deutschland/dresden?month=12

 

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