Poor Things

Jahr: 2023 | Regie: Giorgos Lanthimos | Drehbuch: Tony McNamara | Spielfilm | 141min

In einer futuristischen Vergangenheit waltet der über allen Maßen begabte Chirurg Dr. Godwin „God“ Baxter. Er säbelt Leichen auf und transplantiert hier und da Organe um und erschafft kurioses neues Leben. Seinem begeisterten Schüler Max MaCandles (Ramy Youssef) übergibt er einen Protokollanten-Job, der es aber in sich haben wird. Max darf alle Fortschritte von Bella Baxter (Emma Stone) notieren, einer scheinbar minderbegabten jungen Frau, bei der sich herausstellt, dass sie ein weiteres chirurgisches Experiment von God ist. Bella ist nicht Gods Tochter, sondern war ein schwangeres Suizidopfer. God operierte dem toten Frauenkörper das Gehirn des ungeborenen Kindes ein, erweckt sie zu leben und beobachtet nun die Entwicklungsfortschritte. Er muss nun bei sich – sonst ein durch und durch emotionsloser, wissenschaftlich rationaler Geist – feststellen, dass er Vatergefühle für Bella hegt. Und weil er McCandeles für einen akzeptablen Schwiegersohn hält, möchte er eine Hochzeit zwischen ihm und Bella arrangieren, um Bella bei sich behalten zu können, und ihre Fortschritte zu studieren. Dafür soll noch schnell ein Vertrag geschlossen werden, den der Anwalt und Frauenheld Duncan Wedderburn (Mark Rufallo) ausarbeiten soll. Er jedoch entdeckt die wunderschöne Bella und möchte mit ihr nach Lissabon durchbrennen, während diese gerade die geistige Phase der frühkindlichen Sexualität entdeckt hat und die körperliche Lust für äußerst befriedigenswert empfindet.

Giorgos Lanthimos mit elf Oscars nominierter Film ist ein feministischer Frankenstein-Plot, der durch eine ganze Menge Dinge beeindruckt. Da ist zum einen die Rolle und das Spiel von Emma Stone, das vor allem eins ist, sehr mutig, weil Lanthimos meint, nur mit sehr vielen Nackt- und Sexszenen könne seine Botschaft richtig verstanden werden (und diese Botschaft wäre dann; im Sexualleben erfährt der Mensch einen sehr großen Teil seines Individualismus). Tatsächlich ist Stones Leistung sehr würdigen und mit einer Oscar-Nominierung bedacht worden. Das kleine Problem ist, dass dieser Mut so groß wirkt, dass er leider den Rest der schauspielerischen Leistung etwas verdeckt. Das liegt auch an der Skurrilität mit der Lanthimos seine Filme immer wieder übersteigert und die eigentlich ganz wunderbar funktioniert, aber eine schauspielerische Leistung, welche die Individualisierung eines Menschen zeigen möchte, noch komplizierter macht.[1]
Lanthimos bettet „Poor Things“ in eine eigenwillige Optikwelt ein, eine Art künstlerische Jugendstiloptik mit dem Touch des späten 19. Jahrhunderts. Diese Optik erinnert etwas an Wes Anderson Filme, ist jedoch anders, ähnlich fantasievoll, aber doch irgendwie härter und kälter.[2] In dieser Welt lernt die naive Bella, mit ihren meist männlichen Mitmenschen umzugehen. Bella geht dabei ihren Weg, ihre Individualität kennenzulernen, ihre Sexualität auszutesten und ihre Freiheit zu erlangen. Lanthimos spart nicht, in diese Welt jede Menge Komik einzubauen, auch wenn am Ende der Film mit einer ernsthaften Pointe gelesen werden kann. Diese besagt, dass ein Mensch (feministisch gewendet, eine Frau), auch unter repressiven gesellschaftlichen Bedingungen seine eigene individuelle Freiheit erreichen kann.

Trotzdem kann „Poor Things“ nicht vollends überzeugen. Für eine Betonung eines feministischen Frankensteinfilms ist das Setting des Filmes in gewisser Weise ungeeignet, denn man muss zweifellos annehmen, die Handlung spielt irgendwo im 19.Jahrhundert. So sehr seinerzeit die Ungleichheit von Mann und Frau offensichtlich war und der Film dies adressiert (schon in der Frage der Sexualität mit dem von sich prahlenden Frauenheld Duncan und der von ihr als Hure beschimpften Bella, die in Fragen der Promiskuität schnell überholt[3]), so ist doch unklar, inwiefern diese gesellschaftlichen Bilder heute, im ersten Viertel des 21. Jahrhundert, nicht einfach nur historisch zu nennen sind. So ist doch das gezeigte Menschenbild (von Männern auf Frauen) heute nur in den allerdunkelsten Stellen der Gesellschaft zu erahnen, aber keineswegs mehr Zeitgeist und eigentlich auch nicht die wirkliche Herausforderung unserer Tage.

Umso länger ich über „Poor Things“ nachdenke, umso mehr kann ich dem Film abgewinnen, der für mich anfangs eigentümlich aussageschwach herüberkam. Allerdings bin ich bis heute nicht über das Ende hinweggekommen, das man mindestens besser machen kann oder bestenfalls weglassen müsste.

[1] Es fällt tatsächlich schwer hier ein Urteil zu bilden. Denn die Skurrilität, Absurditäten und Fantasien der Optik und der Handlung lösen immer wieder die Ernsthaftigkeit der Aussagen auf, Stone muss immer wieder zwischen Naivität und Tiefe changieren, was teilweise höchst amüsant und tieftraurig zugleich ist (wie ihr Vorschlag zur Verbesserung des Kunden-Anbietenden Verhältnisses in einem Bordell).

[2] Vielleicht kann man es auch anders sagen; Lanthimos Optik besticht durch einen Kulissen-Charakter, der die Inszenierung betont und dies farblich herausstreicht.

[3] Interessant ist auch die unterschiedliche Logik, die beide für die sexuelle Partnerwahl verwenden. Duncan will erobern, besitzen und weiterziehen, für ihn ist Sex eine Machtbeziehung. Für Bella ist dies egal, sie will ihren Körper kennenlernen, etwaige gesellschaftliche Normierungen des Prozesses werden von ihr naiv in Frage gestellt.

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