Erschien 2007 im amerikanischen Original „The Brief Wonderous Life of Oscar Wao“ bei Riverhead | deutsche Übersetzung von Eva Kemper 2009 bei S.Fischer erschienen mit 382 Seiten
Auf die Idee zur Lektüre von Junot Diaz bin ich über eine Liste gekommen. Diese Liste war die New York Times Top100 der besten Romane des 21. Jahrhunderts, in welcher der Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ auf Platz 11 landete. Solche Listen üben einen außerordentlichen Reiz auf mich aus, denn ich nehme an, dass an ihnen sehr belesene und von ausgesuchtem literarischem Wissen und Geschmack zusammengesetzte Kollektive von Experten mitarbeiten, die nach komplexen Diskussionen und kaum wiederlegbaren Auswahlverfahren eine einzigartige Liste zusammenstellen, die als mindestens kanonisch zu bezeichnen ist.
Nach dem Studium der Liste musste ich feststellen, dass ich nur neun der hundert aufgeführten Bücher gelesen habe – ein Umstand, der wohl einiges über den bescheidenen Stand meines kulturellen Kapitals aussagt. Als ich zusätzliche Informationen über Junot Díaz einholte (wo, wenn nicht auf Wikipedia?), stellte ich fest, dass der Roman auch den Pulitzer-Preis gewann. Die Einsicht in die Preisträger der letzten 25 Jahre brachte mir wiederum die Erkenntnis, dass ich teilweise nicht einmal die Autoren kannte, die den Preis in der Kategorie „Best Fiction“ erhielten – und tatsächlich habe ich bisher nur zwei der 25 Werke gelesen. Man kann also sagen, dass eine Literaturbeilage für mich einen größeren Wert hat als ein hübscher Buchrücken (der natürlich ebenfalls begeistern kann). Allerdings hat sie auch die unangenehme Eigenschaft, mir vor Augen zu führen, dass die Welt in ihrer Größe, Vielfalt und Schönheit zu einem kaum fassbaren Gegenstand geworden ist.
In „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ erzählt Junot Díaz die Geschichte eines etwas übergewichtigen Jungen, der leidenschaftlich gern Fantasy-Romane liest und sich darin versucht, selbst zu schreiben. Oscar ist ein Einzelgänger und ein kleiner Muttersohn, dessen größte Sorge es ist, als Jungfrau zu sterben. Diese Angst wird durch seine Herkunft verstärkt: Seine Familiengeschichte – die im Roman ebenfalls erzählt wird – ist dominikanischen Ursprungs, und es scheint, als sei jeder Mann der Dominikanischen Republik von Natur aus ein Frauenheld oder zumindest dazu bestimmt, einer sein zu wollen. Oscar Wao entspricht diesem Klischee jedoch nicht – obwohl er sich oft verliebt, kann er seine Zuneigung nicht charmant ausdrücken und erntet stattdessen nur Ablehnung. Díaz’ Roman ist aber kein skurriles Coming-of-Age-Werk, das lediglich einen verzweifelten Nerd porträtiert, sondern ein vielschichtiges Prisma aus unterschiedlichen Perspektiven.
Es ist eine Familiengeschichte über drei Generationen, die in der Dominikanischen Republik spielt und die insbesondere die Geschichte und den Einfluss des Diktators Rafael Trujillo, einer Figur, die schon in Mario Vargas Llosas „Das Fest des Ziegenbocks“ in aller brutalen Deutlichkeit beschrieben wird. In dieser Welt und in der Nachwirkung dieser Ära beschreibt Díaz eine dominikanische Gesellschaft, in der Gewalt und Brutalität noch immer allgegenwärtig sind. Gleichzeitig ist es eine Immigrationsgeschichte: Fast alle der wunderbar gezeichneten Figuren leben inzwischen im Osten der USA. Zu ihnen gehört auch der Erzähler der Handlung, der sich im Laufe des Romans zunehmend enthüllt. Sein scheinbar dahingerotzter Ton, gespickt mit spanischen Ausdrücken (die im Anhang ansatzweise übersetzt werden), ist nicht nur Street Slang, sondern hat ebenso Tiefe, auch weil sein Erzählstil, so wie bei einer guten Unterhaltung manchmal abtaucht, in kleinste Nebenstränge, nur um dann wieder zum großen Thema zurückzukehren. „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ ist mehr als ein Buch über Sex und Liebe, aber dieses Gerüst trägt das Werk. Immer wieder begegnen wir als Leser unerwiderter, verzweifelter Liebe, voller Abgründe und Depressionen, aber auch (fast unerfüllbarer) Erwartung an das höchste aller Gefühle.
Zwar zieht sich das Thema manchmal ein ganz klein wenig in die Länge, doch gerade das Ende macht diesen Roman großartig. Hier erleben wir zwei Ausprägungen der Beschreibung von Liebe: zum einen ein fast klassisches Motiv großer, naiver Liebe, das an eine nicht romantisiert kitschige Version von Romeo und Julia erinnert – hart und brutal, aber voller existentieller Hingabe. Zum anderen eine Liebesgeschichte, die von der emotionalen Idee lebt, tragisch in ihrer realen Gestalt des Alltages, aber als Gefühl weiterbestehen kann, auch wenn die handelnden Personen nicht bereit sind, ihr Leben dafür zu opfern.
Alles in allem vereint dieser Roman eine Familiengeschichte, eine Abhandlung über die zeitgenössische Kulturgeschichte der Dominikanischen Republik und eine Satire über das Suchen, Finden und Verzweifeln an Liebe und Lust. All das wird auf kluge, witzige und tiefgründige Weise erzählt – mit Figuren, die sich unauslöschlich ins Gedächtnis brennen. Vielleicht ist Das kurze, wundersame Leben des Oscar Wao nicht der elftbeste Roman, den ich in diesem Jahrtausend gelesen habe, aber er gehört mit Sicherheit in eine Top 100.