Paul Lynch – Jenseits der See

Aus der Reihe: aus fremden Regalen

Erschien 2019 im englischen Original als „Beyond the Sea“ | deutsche Übersetzung von Eike Schönfeld erschien 2025 bei Klett-Cotta mit 184 Seiten

Es gibt ja gute Gründe, im November in stimmungsmäßige Tiefs zu fallen – ich sage nur Novemberblues und so. Mag das Missfallen der Gesamtsituation auch temporär ein paar graue Wolken zum seelischen Durchzug bringen, so ist das eigentlich keine wirklich existentielle Krise. Diese trifft im Regelfall erst durch erhebliche Einflüsse von außen ein. Paul Lynch, der 2023 als Gewinner des Booker Prize größere Aufmerksamkeit für seinen letzten Roman „Das Lied der Propheten“ erlangte, stellte 2019 mit seinem vorhergehenden Buch „Jenseits der See“ eine Untergangshandlung vor, dessen existentialistische Krise durchaus in einer rauest möglichen Umwelt besteht, bei welcher ein dahin driftendes Boot partout nicht sinken will. „Paul Lynch – Jenseits der See“ weiterlesen

Lutz Seiler – Kruso

Erschienen 2014 bei Suhrkamp mit 488 Seiten

Im Jahr 2014, was mittlerweile schon 11 Jahre her ist, machte Lutz Seilers Debütroman „Kruso“ eine große Welle in der deutschen Literaturlandschaft. Der Roman wurde im Erscheinungsjahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, und die entsprechende Publicity spülte das Buch in jede Auslage eines halbwegs anspruchsvollen Buchladens. Sogar vier Theateradaptionen sind in den darauffolgenden Jahren aufgeführt worden. Mein zunehmendes Interesse an (ost-) deutscher Literatur brachte mich nun dazu, den Roman zu erwerben. „Lutz Seiler – Kruso“ weiterlesen

Junot Díaz – Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao

Erschien 2007 im amerikanischen Original „The Brief Wonderous Life of Oscar Wao“ bei Riverhead | deutsche Übersetzung von Eva Kemper 2009 bei S.Fischer erschienen mit 382 Seiten

Auf die Idee zur Lektüre von Junot Diaz bin ich über eine Liste gekommen. Diese Liste war die New York Times Top100 der besten Romane des 21. Jahrhunderts, in welcher der Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ auf Platz 11 landete. Solche Listen üben einen außerordentlichen Reiz auf mich aus, denn ich nehme an, dass an ihnen sehr belesene und von ausgesuchtem literarischem Wissen und Geschmack zusammengesetzte Kollektive von Experten mitarbeiten, die nach komplexen Diskussionen und kaum wiederlegbaren Auswahlverfahren eine einzigartige Liste zusammenstellen, die als mindestens kanonisch zu bezeichnen ist.
Nach dem Studium der Liste musste ich feststellen, dass ich nur neun der hundert aufgeführten Bücher gelesen habe – ein Umstand, der wohl einiges über den bescheidenen Stand meines kulturellen Kapitals aussagt. Als ich zusätzliche Informationen über Junot Díaz einholte (wo, wenn nicht auf Wikipedia?), stellte ich fest, dass der Roman auch den Pulitzer-Preis gewann. Die Einsicht in die Preisträger der letzten 25 Jahre brachte mir wiederum die Erkenntnis, dass ich teilweise nicht einmal die Autoren kannte, die den Preis in der Kategorie „Best Fiction“ erhielten – und tatsächlich habe ich bisher nur zwei der 25 Werke gelesen. Man kann also sagen, dass eine Literaturbeilage für mich einen größeren Wert hat als ein hübscher Buchrücken (der natürlich ebenfalls begeistern kann). Allerdings hat sie auch die unangenehme Eigenschaft, mir vor Augen zu führen, dass die Welt in ihrer Größe, Vielfalt und Schönheit zu einem kaum fassbaren Gegenstand geworden ist. „Junot Díaz – Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ weiterlesen

Wolf Haas – Wackelkontakt

Erschien 2025 bei Carl Hanser mit 240 Seiten

Sich selbst Geschenke zu machen, hat den entscheidenden Vorteil, dass man sich nichts Falsches schenken kann – und so schenkte ich mir zum Geburtstag den neuen Roman von Wolf Haas. Haas legte Anfang des Jahres sein neuestes Buch vor. Es ist ein Werk, das von den Bildern M. C. Eschers geprägt zu sein scheint. Ich muss Ihnen das sicherlich nicht erklären, geneigter, der Kunstwelt zugetaner Leser, aber Eschers Bildwelten waren immer Ausflüge in eigentümliche gestalterische Paradoxien, die Sehgewohnheiten infrage stellten. „Wackelkontakt“ könnte man als die Romanform von Eschers Lithografie „Drawing Hands“[1] sehen, und wie die Zeichnungen des Niederländers ist auch Haas’ Romankonstruktion ein intelligenter Genuss. „Wolf Haas – Wackelkontakt“ weiterlesen

Jonathan Lethem – Der Stillstand

Erschien 2020 im amerikanischen Original als „The Arrest“ bei HarperCollins | deutsche Übersetzung von Ulrich Blumenbach 2024 bei Tropen mit 328 Seiten

Jonathan Lethem gehört zu den großen amerikanischen Romanautoren, die etwas zu selten auf meiner Leseliste auftauchen. Nachdem mir Chronic City als wundervoller Roman in Erinnerung geblieben ist, wollte ich mit „Der Stillstand“ einen Teil meines Freibadsommers verbringen. „Jonathan Lethem – Der Stillstand“ weiterlesen

Charles Yu – Handbuch für Zeitreisende

Erschien 2010 im englischen Original als „How to Live Safely in a Science Fictional Universe“ bei Pantheon Books | deutsche Übersetzung von Peter Robert hier vorliegend in der 2012 erschienen Taschenbuchausgabe bei rowohlt mit 272 Seiten

Im Frühjahr hatte ich auf diesen in Schwarz und Weiß gehaltenen digitalen Seiten über die Serie Interior Chinatown geschrieben und meine große Begeisterung kundgetan. Solche Begeisterung verleitet mich schnell dazu, mich mit den Machern solcher Serien auseinanderzusetzen – in diesem Fall mit Charles Yu, von dem ich wahrnahm, dass er einen Roman veröffentlicht hatte. Dieser landete daraufhin auf meiner Sommerleseliste (weil ich ihn darauf gesetzt hatte und ich auf dieser nicht immer nur alte Bekannte wiederfinden möchte). „Charles Yu – Handbuch für Zeitreisende“ weiterlesen

Alexander Osang – Fast hell

Erschien 2021 beim Aufbau-Verlag | hier als Taschenbuch mit 237 Seiten

Für mich ist die Wende in der DDR immer mit Fußball verbunden. Wie ich es damals mit 11 Lebensjahren gewohnt war, wollte ich mich mit meinen Freunden auf dem Spielplatz am Fichtepark zum bolzen treffen, als meine Mutter sagte, ich sollte vorsichtig sein und meinte, bei den derzeitigen Zeiten müsse man etwas aufpassen. Es war der Herbst 89, und spätestens mit dieser Bemerkung war mir mindestens unbewusst klar, dass etwas in der Luft lag, auch wenn die Fakten das schon vorher angedeutet hatten.
Gutes wie Schlechtes waren in höchster Eisenbahn in mein Leben getreten: Dynamo Dresden wurde nach 11 Jahren Vorherrschaft des verhassten BFC endlich wieder Fußballmeister (für mich bis heute noch ein indirekter Indikator für die Veränderungen in der DDR), mein bester Freund Sven ging im Sommer in den Westen (und war damit der erste Mensch, der aus meinem Leben herausgetreten ist, mein erster großer menschlicher Verlust), und ungefähr zur selben Zeit hatten wir Westfernsehen bekommen, bei mir erstmals auf dem Fernseher in Form eines Tennisspiels zu sehen, das noch schwarz-weiß auf dem Endgerät meiner Oma lief (die daraufhin übrigens Tennisfan wurde und für immer blieb). All das war noch vor den Ereignissen, als die Züge mit Flüchtlingen der Prager Botschaft durch Dresden in Richtung BRD fuhren und am Hauptbahnhof meiner Heimatstadt ein kräftiges Boheei entstand, als diese Züge vorbeifuhren. Die Wende lag quasi in der Luft, und sie war die Geburtsstunde und das prägendste gesellschaftliche Ereignis einer jeden ostdeutschen Biografie in jenen Jahren. Wenn es etwas gibt, das eine ostdeutsche Biografie ausmacht, dann ist es dieser Kontext aus gewaltigen Veränderungen, die sich für alle DDR-Bürger im Herbst 89 ereigneten. „Alexander Osang – Fast hell“ weiterlesen

Roberto Bolaño – Lumpenroman

Erschien 2002 im spanischen original „Una novelita lumpen“ bei Random House Mondadori Barcelona | deutsche Übersetzung von Christian Hansen bei Carl Hanser 2010 mit 112 Seiten

Durch einmal jährliches Ausmisten meines Kleiderschrankes möchte ich verhindern, dass sich die stolze Sammlung meiner über die Jahre zusammengekauften Kleidung in ein unübersichtliches Geflecht von Lumpen entwickelt. Ich habe diesbezüglich übrigens vor einiger Zeit angefangen, mir entsprechende Falttechniken im Internet anzueignen (ich verweise am Ende dieses Textes auf ein Beispiel), um meine Kleidung auch gehaltvoll und ordentlich dem eigenen Auge gegenüber zu präsentieren. Dieser optisch hübsche Anblick verdeckt aber, die der Kleidung zugrundeliegenden Produktionsprozesse, die ich – und hier dürfen Sie an meiner gesellschaftsmoralischen Integrität gern zweifeln, geneigter Leser – in vielen Fällen als schwierig bezeichnen würde, denn ich befürchte, viele der schnittigen und gar nicht so teuren Trikotagen werden unter, euphorisieren wir mal, ausbaufähigen Produktionsbedingungen hergestellt.
Karl Marx und Friedrich Engels prägten vor über 175 Jahren den Begriff des Lumpenproletariats, welcher sich auf die prekären Verhältnisse des ärmsten Teils der Arbeiterschaft bezieht. Die Arbeiter werden nicht wegen dem, was sie herstellen, Lumpenproletarier genannt, sondern wegen dem, was sie anhaben können. Zweifellos ist diese Form der Zustände hinweggefegt worden (was ich auch für die textilverarbeitenden Gewerbe in Asien sehr hoffe, wo meine Kleidung herzukommen scheint). Trotzdem ist auch in der Gegenwart der Begriff des Lumpenproletariats noch verständlich, bezieht er sich doch auf die wirtschaftlich schwächsten Kreise unserer Gesellschaft, die sich vielleicht nicht mehr in Lumpen kleiden, aber prozentual immer weiter entfernt vom Reichtum der Gesellschaft entfernt sind. „Roberto Bolaño – Lumpenroman“ weiterlesen

Carlos Ruiz Zafón – Das Spiel des Engels

Erschien 2001 im spanischen Original „El juego del ángel“ | deutsche Übersetzung von Peter Schwaar, erstmals 2008 bei S.Fischer erschienen, hier als Taschenbuch mit … Seiten vorliegend

Ich bin mir nicht sicher, ob man das Fensterbrett zwischen dem 1. und 2. Stock im Treppenhaus, an dessen oberen Ende sich meine Wohnungstür befindet, als Friedhof der vergessenen Bücher bezeichnen kann. Aber tatsächlich liegen dort manchmal einige, abgelegte Bücher herum. Durch mein spießbürgerliches Gemüt geprägt, bin ich kein Freund davon, Dinge, die aus irgendwelchen Gründen nicht mehr in die eigenen vier Wände passen, im öffentlichen Raum auszulagern und darauf zu vertrauen, dass irgendjemand anderes mit dem Müll (was es ja per Definition ist, wenn man es aus seinem Haushalt aussperrt) etwas anfangen kann. Jetzt sind Bücher aber etwas anderes als zum Beispiel alte Matratzen, Töpfe oder Unterwäsche (die mir tatsächlich mal ein Nachbar angeboten hat, was mich auf extrem vielen Ebenen verwunderte). Da ich ein kalorienbewusster Mensch bin, laufe ich natürlich die fünf Stockwerke meines Treppenhauses hoch (allein schon wegen der täglichen Schrittstatistik). Eines Tages erspähte ich an besagtem Fensterbrett Carlos Ruiz Zafóns zweiten Teil seiner Saga vom Friedhof der vergessenen Bücher, betitelt mit „Das Spiel des Engels“, und in fast tadellosem Zustand. Also nahm ich das Exemplar mit.
Und jetzt habe ich es gelesen. „Carlos Ruiz Zafón – Das Spiel des Engels“ weiterlesen

Peter Stamm – Das Archiv der Gefühle

Aus der Reihe: aus fremden Regalen

Erschien 2021 bei S.Fischer Verlag mit 190 Seiten

Ich stelle zunehmend fest, dass mich die Romane und Erzählungen des Schweizers Peter Stamm auch auf einer weiteren Ebene interessieren. Neben seiner klaren Sprache und seiner realistischen, aber stets ruhigen und angenehm unspektakulären Erzählweise haben seine Geschichten eine Tiefe, die aus seinen Texten eine Fundgrube über Weltsichten und das Leben an sich werden lässt. „Peter Stamm – Das Archiv der Gefühle“ weiterlesen