Martin Walser – Die Verteidigung der Kindheit

Zur „Verteidigung der Kindheit“ bin ich über das Militärhistorische Museum in Dresden gekommen. Das klingt etwas martialisch, entspricht aber den Tatsachen, denn in der Sonderausstellung „Schlachthof 5“ wurde über literarische Zeugnisse der Zerstörung Dresdens gesprochen. Dort sah ich auch, dass Martin Walser in seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ über Dresden schrieb. Da ich die entsprechende Lesung durch verspätete Information verpasste, hatte ich mir für den Sommer vorgenommen, den Roman, der 1991 veröffentlicht wurde, zu lesen.

Die Zerstörung Dresdens ist in „die Verteidigung der Kindheit“ ein Fixpunkt für den Haupthelden Alfred Dorn, der 1945 mit 18 Jahren den Bombenangriff erlebt und gemeinsam mit seiner Mutter überlebt. Die Erzählung beginnt jedoch einige Jahre später, als Dorn in Westberlin Jura studiert, da er in Leipzig an politischen Fragen scheiterte. Der junge Erwachsene Dorn jedoch wird nicht glücklich, er vermisst seine Heimat, seine Geborgenheit und vor allem vermisst er den wichtigsten Menschen in seinem Leben – seine Mutter. Die Beziehung zu ihr, ist fast schon eine romantische Liebe zu nennen, denn anderen Frauen gegenüber empfindet Alfred keinen Reiz. Seine Begeisterung entbrennt bei der Bewahrung der Erinnerung seiner glücklichen Kindheit, aber sowohl die Zerstörung Dresdens und der materielle Verlust von Erinnerungsstücken, als auch die sich verschärfende deutsche Teilung, die im Mauerbau gipfelt, stellen für das Erinnern der Vergangenheit eine immer größere Hürde dar. Alfred spürt Zeitzeugen auf, die ihn mit Geschichten und Zitaten versorgen können und er fahndet nach Artefakten aus seinem früheren Leben. Er führt ein Leben im ständigen Kampf des Jetzts gegen den Verlust des Gesterns, dass er exzessiv versucht irgendwie fest zu halten. „Martin Walser – Die Verteidigung der Kindheit“ weiterlesen

Thomas Glavinic – Das Leben der Wünsche

Die wohl fundamentalste Frage, die man an sich selbst richten kann ist, wer bin ich? Lösen kann man diese Frage nie vollständig, ignorieren kann man sie zeitlebens. Aber wenn man sich dem Thema nähern möchte, kann man beispielsweise reflektieren, was man sich im (oder vom) Leben wünscht. Und hier sind weniger konsumistische (das neue Smartphone) oder punktuelle (dem Mann vor mir in der Schlange zur Kasse weniger Lebensmittel im Wagen) Wünsche gemeint, sondern das was tief in uns schlummert. Wünsche die wir vielleicht verdrängen, bei denen wir wissen, dass es Wünsche bleiben werden, die wir nicht für realistisch halten, oder vor deren Erfüllung wir gar Angst haben. Thomas Glavinic analysiert in seinem 2009er Roman „Die Welt der Wünsche“ genau dieses Szenario.

Wir erleben Jonas, denn der Leser schon aus dem Roman „Die Arbeit der Nacht“ kennt. Ob es der selbe Jonas ist, wie dort, spielt eigentlich keine Rolle. Jonas hat eine Frau, Helen, und zwei Söhne, Chris und Tom. Er arbeitet in einem eher mittelmäßigen Job, sein Vater sitzt nach einem Schlaganfall im Altenheim, seine erste Liebe und immer noch gute Freundin Anne ist unheilbar krank, seine Mutter schon lange Tod. Die Ausflucht und der Hoffnungsstrahl seiner Welt ist neben seinen Söhnen, Marie. Sie ist nicht nur seine Geliebte, sondern sie ist seine Bestimmung, der Mensch dem man unerbittlich, unendlich, einzigartig liebt. Ungünstigerweise ist auch Marie verheiratet und hat einen Sohn. Beide wollen für ihre Liebe, ihre eigentlichen Familien, ihr Umfeld, ihr gewohntes Leben nicht verlassen.
In einem Park trifft Jonas eine zwielichtige Person, der ihn um eine Sekunde bittet. Er weiß alles über Jonas, weiß von seiner Affäre, aber er will ihn nicht erpressen. Ganz im Gegenteil, er schenkt ihm drei Wünsche, was Jonas verwirrt. Aus ihm sprudeln eine ganze Reihe von Ideen heraus, jedoch beschließt er, dass er nur einen einzigen Wunsch hat, nämlich das alle seine Wünsche in Erfüllung gehen. Und so endet dieses Treffen und Jonas Leben geht weiter, so wie er es gewohnt ist. Langsam jedoch schleichen sich Veränderungen ein. „Thomas Glavinic – Das Leben der Wünsche“ weiterlesen

Thomas Pynchon – Bleeding Edge

Thomas Pynchon ist einfach ein Faszinosum. Der Autor von dem keine (aktuellen) Fotos existieren und der bei den Simpsons mit einer Papiertüte über den Kopf dargestellt wird, hat 2013 seinen neusten und nunmehr achten Roman veröffentlicht. Diesmal widmet er sich zwei Ereignissen, die unser Leben seit dem Anfang des Jahrhunderts verändert haben. Das eine ist der „11.September“, das andere „Ereignis“ ist das Internet.

Als Leser folgen wir Maxine Tarnow, einer privat ermittelnden Wirtschaftsdetektivin. Sie lebt mit ihren beiden Söhnen allein, da die Ehe mit ihrem Mann Horst nicht richtig funktionieren will. In ihren tagtäglichen Fällen stöbert Maxine sich durch die Welt der Wirtschaftskriminalität, liest Excel Tabellen auf fehlerhafte Rechnungen aus und findet die Lücken, wo Geld abgezweigt wird und in undurchsichtige Kanäle verschwindet. Ein alter Freund, Reg, hat den Auftrag bekommen die Internetfirma „hashslingrz.com“ (ein „hash slinger“ ist eine unhöflicher Kellner oder Koch in einem runtergekommenen Diner) zu dokumentieren, aber diese wirkt auf ihn zunehmend suspekt und er bittet Maxine, sich das Unternehmen etwas genauer anzusehen. Dabei stößt sie auf die dubiosen Machenschaften das Dot.Com Oligarchen Gabriel Ice. Dieser scheint an fast jedem Internetunternehmen beteiligt zu sein und kauft immer weiter ein. Sein Interesse, scheint sich auch auf ein Projekt von zwei von Maxines Freunden zu richten. Vyrva und Justin schicken ihre Tochter auf die gleiche jüdische Schule wie Maxine ihre Söhne. Justin hat zusammen mit einem Freund ein Programm namens „DeepArcher“ (sprich: Departure) entworfen, eine Art von second life, eine virtuelle Realität. Das Programm versteckt sich im schwer zugänglichen Teil des Internets im Deep Web, benutzt aber eine Verschlüsselung, auf die es scheinbar die ganze Welt abgesehen hat. „Thomas Pynchon – Bleeding Edge“ weiterlesen

Thomas Glavinic – Wie man leben soll

Man hat ja so seine Lieblingsautoren. Von denen liest man gern alles, was sich auftreiben lässt. Günstigerweise lässt sich von Thomas Glavinic noch eine Menge auftreiben und so fällt einem sein vierter Roman „Wie man leben soll“ in die Hände. Auch wenn man der Meinung ist, dass dieses Werk nicht an die Glanzstücke seines Oeuvres ran reicht, so erfreut man sich doch an dem wie immer ausgesprochen humorvollen Ton und dem wie immer anregenden Stil der Verwendung größtmöglicher Quantität an Indefinitivpronomen, den der Autor einen präsentiert, der in diesem Fall hier nachgeäfft wird (wenngleich auf weniger hohem literarischen Niveau). „Thomas Glavinic – Wie man leben soll“ weiterlesen

Jonathan Franzen – Die 27ste Stadt

Jonathan Franzens Weltruhm begann um die Jahrhundertwende mit seinem Roman „Die Korrekturen“. Dies war aber schon sein dritter Roman, die beiden Vorgänger, „Strong Motion“ und „Die 27ste Stadt“ erreichten bei weitem nicht so ein großes Publikum. Aber das ist etwas ungerecht, denn beide Bücher verdienen Beachtung. Da ich „Strong Motion“ schon vor vielen Jahren durchlas, fiel meine Aufmerksamkeit auf Franzens Debüt aus dem Jahr 1988, dass erst durch den Erfolg der „Korrekturen“ ins Deutsche übersetzt wurde und daher hier 2003 herauskam. „Jonathan Franzen – Die 27ste Stadt“ weiterlesen

Daniel Kehlmann – F

Nachdem ich zweimal hintereinander an Büchern scheiterte (Le Clézios „Das Fieber“, das mir wieder mal zeigte das die Auswahl des Nobelkomitees nicht immer auch meine Wahl ist und an Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“, über der bei mir ein Fluch liegt, denn schon zu Schulzeiten war ihre „Kassandra“ das am schwierigsten zu lesende Buch für mich und eine schmerzliche Erinnerung an meinen Deutsch-Grundkurs), wollte ich auf bewährte, aber intelligente Lektüre zurückgreifen. Was liege da näher als der mittlerweile schon ein Jahr alte, neue Kehlmann. „Daniel Kehlmann – F“ weiterlesen

Wolfgang Herrndorf – Sand

Als Kind habe ich gern Sand in eine Hand genommen und ihn langsam aus ihr herausgleiten lassen. Wie viele kleine Körner dabei zurück flossen und wie viele in der Hand blieben, war mir immer ein unberechenbares Rätsel. Die Körner waren zu klein, um sie zu zählen, und sie waren zu schnell verschwunden um sie festzuhalten.

Wolfgang Herrendorfs Roman „Sand“ ist das letzte zu Lebzeiten des viel zu früh verstorbenen Autors herausgekommene Buch, ein Roman, der so ganz und gar nicht zu seinem großen Erfolg „Tschick“ passt, und auch nicht mit „In Plüschgewittern“ zu vergleichen ist. „Sand“ ist ein um einiges rätselhafterer Roman, aber ein Abenteuer auf das man sich unbedingt einlassen sollte. „Wolfgang Herrndorf – Sand“ weiterlesen

Martin Walser – Ein fliehendes Pferd

Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch einen Jahrtausende währenden Prozess den man unterschiedlich bezeichnen kann; als Entfremdung von der Natur oder auch als Zivilisationsprozess. Der Mensch erschafft sich darin Sprache, Zeichen und er ummantelt sein Verhalten mit sozialen Kodierungen und Regeln, er hemmt seine natürlichen Triebe und kontrolliert sich selbst. Mit Erving Goffman könnte man sagen: „Wir spielen alle Theater“. „Martin Walser – Ein fliehendes Pferd“ weiterlesen

Ian McEwan – Amsterdam

Molly Lane ist gestorben. Die Krankheit kam schnell, ließ sie zu einem Frack werden, nicht mehr sie selbst sein. Auf der Trauerfeier treffen sich Clive Linley und Vernon Halliday, älteste Freunde und beides ehemalige Geliebte von Molly, deren Wirkung auf Männer vor ihrer Krankheit man als ekstatisch magnetisch bezeichnen kann. Ebenso anwesend ist der recht farblose Ehemann von Molly, George Lane, der seine geliebte Frau in ihren letzten Tagen hermetisch von der Umwelt abriegelte. Auch zugegen ist Julian Garmony, Außenminister und rechtsgerichteter Polemiker mit dem Ziel, bald Premierminister werden zu wollen. Clive und Vernon hassen sowohl George, der Molly hatte heiraten dürfen, als auch Garmony, nicht nur weil auch er ein Liebhaber der Verstorbenen war, sondern gleichfalls wegen seiner Politik. Einen Grund warum eine solche Klassefrau mit diesen beiden Menschen näheren Kontakt gehabt hatte, scheint insbesondere Clive ziemlich unergründlich.
Doch irgendwann ist die Trauerfeier beendet und es geht zurück ins Leben, das jetzt ohne Molly weitergehen muss. Der Komponist Clive soll seine Millenniumssymphonie beenden, welcher der Staat bei ihm in Auftrag gegeben hat, um den Jahrhundertwechsel mit ausgesuchter Musik zu untermalen. Vernon wiederum richtet die Aufmerksamkeit auf seine Rolle als Chefredakteur des „Judge“, einer schrumpfenden Qualitätszeitung, deren intellektuelles Credo nicht nur dem korrekten Syntax, sondern insbesondere der kritischen Hinterfragung der Regierung gilt und dabei insbesondere des Außenministers. Da kommt ein Anruf von George in Vernons Büro eigentlich gerade recht,  der ihm, von Molly gemachte, kompromittierende Fotos von Garmony anbietet, welche nicht nur die Auflage des „Judge“, dessen Anteilseigner George ist, steigern, sondern auch die politische Karriere von Julien ruinieren könnte. „Ian McEwan – Amsterdam“ weiterlesen

Thomas Glavinic – Lisa

Es ist Sommer und die Nacht bricht herein. Sie suchen im Internet nach Unterhaltung und sie finden eine Radiostation. Dort spricht ein Mann, wohl so Mitte 30. Er sendet von einem Ort, den er nicht verraten will. Er ist dort mit seinem acht Jahre alten Sohn und versteckt sich, weil er Angst hat gefunden zu werden.

Das ist das Szenario von Thomas Glavinics Roman „Lisa“. Wir lesen, wie ein Mann im selbstgemachten Radio spricht (genau genommen wissen wir nicht, ob der immer wieder stockende Text dadurch bedingt ist, dass der Radiomacher teilweise auch anderen Tätigkeiten nachgeht, oder sein Mikro fehlerhaft ist, oder ob die das Radio hörende Person zwischenzeitlich eine andere Station einschaltet, aber das sind recht unwichtige Details). Dieser Mann, der von seinem Laptop aus sendet, hat große Angst. Er flieht vor einer Unbekannten.
Die Angst hat er, weil vor drei Jahren bei ihm eingebrochen wurde. Alles war harmlos, aber wie sich später rausstellt, wurden DNA-Spuren gefunden, welche zu mehreren anderen Tatorten passten. Die Spuren sind von einer Frau und die weiteren Verbrechen, bei denen diese Spuren noch gefunden wurden, sind grausig, brutal und auf der Welt verstreut. Hilgert, der damals zuständige Kriminalist, verfolgt die Spur der geheimnisvollen Kriminellen und so werden unser Radiomacher und er Freunde, mit dem Ergebnis, dass Hilgert immer mehr verwirrende Spuren ausfindig macht und schlussendlich, als unser Hauptheld nichts mehr vom ihm hört, auch diesen so sehr dadurch ängstigt, dass er fortfährt und sich versteckt, trinkt und kokst und zu seiner Ablenkung und weil er etwas zum reden benötigt, sein Internet anstellt und Radio macht. „Thomas Glavinic – Lisa“ weiterlesen