Jonathan Lethem – Chronic City

Erschien im Original: 2009 | deutsche Übersetzung von Johann Christoph Maas und Michael Zöllner | 2011 bei Tropen | 494 Seiten (im Taschenbuch bei Fischer)

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich an dieser Stelle erklärt, ich müsse mal wieder Jonathan Lethem lesen. Das führte dazu, das sein Roman „Chronic City“ auf meiner Winterleseliste auftauchte.
„Chronic City” ist ein in New York City spielender Roman, ein Schauplatz, der im Schaffen des gebürtigen Brooklyner Lethem häufig anzutreffen ist. Dieses New York jedoch ist eine surreale, krisenhafte Stadtlandschaft, die man sich eher wie ein leicht dystopisches Szenario vorstellen muss, ein Motiv, welches momentan ja eine gewisse Relevanz und Konjunktur hat (vielleicht war das auch schon immer so, aber die aktuellen Krisen scheinen immer stärker und schneller zu werden, ob das in 10 Jahren noch genauso wahrgenommen wird ist spekulativ, aber spannend).
Der Hauptteil der Handlung von „Chronic City“ spielt in einem eisigen und tief verschneiten Winter, der sich endlos zu ziehen vermag, die New York Times bringt „kriegsfreie“ Nachrichten heraus (wohl, weil die Leser vom vielen Krieg auf dem Planeten nichts mehr wissen wollen), Teile von Downtown liegen seit vielen Monaten unter dichten Wolken und ein seltsamer und irgendwie mutierter Tiger streunert durch die Stadt und richtet allerhand Zerstörung an. Doch während man seine Destruktion sehen kann, bleibt das Tiger selbst wie ein mythisches Wesen, welches kein Mensch je richtig sah, geschweige denn in Gefangenschaft nehmen konnte.
Chase Insteadman, ein ehemaliger Kinderstar lebt in dieser Stadt und gehört zu einer nicht unerheblichen Anzahl an Bohème, deren Alltag davon geprägt ist, andere Menschen zu treffen. Insteadman ist destingiert und attraktiv, doch für die Öffentlichkeit der Stadt ist er vor allem eins; der Verlobte der Astronautin Janice Trumbull. Diese wiederum sitzt gefangen in einer Weltraumstation, deren Eingeschlossenheit sich darin begründet, das chinesische Mienen eine Rückkehr auf die Erde unmöglich machen. Was die Situation noch verschlimmert ist die Tatsache, dass lediglich Nachrichten an die Erde gesendet werden können, darauf aber kaum geantwortet werden kann. Und so erhält Chase Liebesbriefe von Janice (die natürlich vorab, in der New York Times veröffentlicht werden), kann diese aber nie beantworten und lebt sein Leben auf Erden.
Insteadman lernt Perkus Tooth kennen, einen abgedrehten Gesellschaftskritiker, der ihn in seinen Bann zieht, da Perkus nicht nur scheinbar tief fundiertes Wissen über die Filmbranche besitzt, sondern gleichfalls faszinierende, wie merkwürdige Welterklärungsansätze anbietet, allen voran, die Spekulation, das Marlon Brando noch lebt. Chase verbringt immer mehr Nächte bei Perkus, wo sie bis in den frühen Morgen hinein, getränkt von der rauschhaften Wirkung Mariuanhas über New York und die Welt grübeln. Eines Tages läuft Chase die Ghostwriterin Oona Lazlo bei Perkins über den Weg, die scheinbar in jedes größere Buchprojekt der Stadt verwickelt zu sein scheint. Bei einer Dinnerparty lernt Chase außerdem den Rathausmitarbeiter Richard Abneg kennen, der ebenfalls ein Freund von Perkus ist. Und so sieht man sich und spricht miteiandern, in der rauen Kälte New York Citys. „Jonathan Lethem – Chronic City“ weiterlesen

D.T. Max – Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte. David Foster Wallace – Ein Leben

Originaltitel: „Every Love Story is a Ghost Story: A Life of David Foster Wallace“ | deutsche Übersetzung von: Eva Kemper | 2014 bei Kipenheuer & Witsch erschienen | 502 Seiten

Ich kann mich noch an so viel erinnern.  Ich sitze im Zug und lese zum ersten Mal in meinem Leben David Foster Wallace, oder DFW[1], wie seine, mit einem unsichtbaren Band gemeinsamer Begeisterung verbundenen, Fans ihn nennen.[2] Ich kann mich auch daran erinnern, wie ich den „Unendlichen Spaß“ begann und ich erinnere mich, wie ich die letzten Zeilen las, nur um sofort wieder mit der ersten Seite des Buches neu zu beginnen, doch ich wusste in diesem Moment, dass es das beste Buch war, das ich je gelesen hatte. Ich erinnere mich daran, am Tag des erscheinen des „Bleichen Königs“ DFWs unvollendeten letzten Roman in einer Buchhandlung gesehen zu haben.[3] Wie ich verführt wurde von der Idee, das Werk an jenem symbolischen Tag gleich erwerben zu müssen, wie es ein Fan nun einmal tun müsste, aber mir klar wurde, dass ich ihn nicht gleich lesen würde (wie es ein richtiger Hardcore Fan eigentlich auch tun müsste[4]), ließ ich davon ab. Es gibt so viele Erinnerungen, an die vielen Stunden mit seinen Texten. Und da es keine neuen Texte mehr von ihm gibt, lese ich nun etwas über ihn, denn wenn ich mal meine Biographie schreiben sollte, dann ist nach Don DeLillo, DFW – chronologisch gesehen – so etwas wie der zweite große Autor meines Lesens.[5] [6]

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Adam Tooze – Welt im Lockdown

Originaltitel: “Shutdown. How Covid Shook the World’s Economy”| deutsche Übersetzung von Andreas Wirthensohn | 2021 bei C.H.Beck erschienen | 408 Seiten

Stellen sie sich vor, sie wären ziemlich clever (jeder kann sich das eigentlich ganz gut vorstellen, ich stelle es mir manchmal vor – na gut ich gebe zu, öfters vor – ich stelle mir sogar vor, ich wäre besonders clever). Sie sitzen bei der Premiere eines neuen Films und weil sie clever sind und weil unklar ist, wie lange der Film noch geht, gehen aus dem Kino heraus und erzählen dem gespannten Publikum, das keinen Einlass zur Premiere hatte, aber eigentlich echt gern wissen würde, worum es geht, was sie über den Film denken. Ihre Einlassungen sind geprägt von großer Kenntnis und Sachverstand, und sie haben den großen Vorteil, dass sie der Einzige waren, der vorher aus dem Kino rausgegangen ist und können somit erstmal frei erzählen, weil die anderen Typen noch im Saal sitzen. Es gibt eben nur ein winziges Problem, sie kennen das Ende des Filmes nicht, sie wissen noch nicht mal, wie nah oder fern sie am Abspann waren.

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, den ich durch sein Buch „Crashed“ außerordentlich schätze, hat Ende des letzten Jahres, ein Buch über die Corona-Krise veröffentlicht.[1] Es wurde im April 2021 fertiggestellt und beleuchtet das erste Jahr der Pandemie auf dem Planeten. Eigentlich könnte ich an dieser Stelle schon aufhören zu schreiben, denn dem einen oder anderen mag es aufgefallen sein, die Coronapandemie ist weder im April 2021 noch heute im Januar 2022 wirklich vorbei (vielleicht bald, aber heute noch nicht). Das ist das große Manko, eines Buches, das eigentlich nicht wirklich ein Buch über die Pandemie sein will (so suggeriert es auch der Originaltitel, aber nicht die deutsche Übersetzung!), dessen Hauptschwerpunkt aber die Reaktion auf die Viruskrise ist. Für Adam Tooze ist damit „das Jahr 2020 keineswegs ein Kulminationspunkt, sondern lediglich ein Moment in einem Prozess der Eskalation“ (S.338), der zu einer Politik des Krisenmanagements geführt hat. Als Diagnose ist das aber ein bisschen wenig und man könnte den Vergleich ziehen, dass sie als Arzt einen kranken Menschen vor sich haben, dieser mit einer Grippe vor ihnen steht. Sie diagnostizieren die Krankheit, geben ein Medikament und stellen noch allerhand andere Probleme fest und erklären dem Patienten, darum müsse man sich später auch kümmern. Bei der Darstellung die wir in „Lockdown. Welt am Abgrund“ bekommen, ist die Geschichte aber schon an dieser Stelle zu Ende, ob die Medikamente des Doktors (die Politik) wirken, ob es Nebeneffekte gibt und was wir heilen können und was chronisch werden könnte, werden wir von diesem Buch nicht erfahren, noch nicht mal, wie das mit der ansteckenden Krankheit ausging. „Adam Tooze – Welt im Lockdown“ weiterlesen

Der Fall Richard Jewell

Jahr: 2019 | Originaltitel: „Richard Jewell“ | Regie: Clint Eastwood | Drehbuch: Billy Ray | Spielfilm | Länge: 129min | Location: Atlanta (USA) im Jahr 1996

Richard Jewell (Paul Walter Hauser) ist ein Sicherheitsdienstangestellter, der seinen Dienst sehr ernst nimmt und ein Verfechter strenger Regeln und deren Einhaltung ist, was ihm wiederum bei seinem Jobs gelegentlich auf die Füße fällt, weil er das Image eines machtgeilen Aushilfssherifs akkumuliert. Aus Anlass der Olympischen Spiele in Atlanta 1996 finden im Rahmenprogramm des Großereignisses einige Konzerte in der Stadt statt. Auf einem dieser Konzerte ist Jewell angestellt und findet eine Bombe. Er versucht noch, so viele Menschen wie möglich aus der Gefahrenzone zu bekommen, bis die Bombe explodiert und leider Verletzte und Tote hinterlässt. Schnell als Held gefeiert, wird das FBI unter Leitung von Tom Shaw (Jon Hamm) misstrauisch gegenüber Jewell und mit der Methode des hausinternen Profiling, verdichtet sich der Verdacht, Jewell könnte selbst die Bombe explodiert haben lassen, um danach als Held dazustehen. Davon bekommt die Reporterin Kathy Scruggs (Olivia Wilde) Wind und macht aus Jewell in ihrer Reportage einen Massenmörder. Jewell jedoch kooperiert anfangs hilfsbereit mit den Behörden, doch als die Wohnung, die er zusammen mit seiner Mutter Bobi (Kathy Bates) bewohnt, komplett auseinandergenommen wird und die Medienmassen an jeder Ecke auf ihn lauern, vertraut er immer mehr seinem Anwalt Watson Bryant (Sam Rockwell) und schlägt gegen das FBI und die Medien zurück. „Der Fall Richard Jewell“ weiterlesen

Martin Walser – Muttersohn

Erschien: 2011 bei Rowohlt | Seitenzahl: 505

Vor einigen Jahren schon begann ich auf einer Zugfahrt, Martin Walsers Roman „Muttersohn“ zu lesen. Im Herbst ist mir nicht mehr eingefallen, warum ich nur die ersten Seiten lass und dann aufhörte und ich startete erneut, schließlich löste der Titel des Romans eine gewissen Neugier in mir aus, doch schnell stellte sich bei der Lektüre heraus, dass es in diesem Roman aus dem Spätwerk eines der vielleicht größten und umstrittensten noch lebenden deutschen Schriftsteller um mehr geht, als ich dachte. „Martin Walser – Muttersohn“ weiterlesen

Der tommr.de Jahresrückblick 2021

Die letzten zwei Jahreswechsel gab es aus diversen Gründen keinen Rückblick auf die besten Bücher, Serien und Filme des Jahres, die hier auf tommr.de vorgestellt wurden. Mit Beginn des Jahres 2022 soll sich dies für eine Rekapitulation des alten Jahres ändern. Wie an vorheriger Stelle bereits bemerkt, sei der Hinweis an den vermeintlichen Leser gegeben, dass es sich hierbei eher um eine subjektive Leidenschaft zum Platzieren handelt, als um eine objektivierte Erfahrung. „Der tommr.de Jahresrückblick 2021“ weiterlesen

Don’t Look Up

Jahr: 2021 | Drehbuch & Regie: Adam McKay | Satire | 138min

Katastrophen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte, wobei das eigentlich nicht stimmt, denn es gibt sie eigentlich von Anbeginn der Zeit. Das Wort kommt aus dem altgriechischen und bedeutet soviel wie „Um- oder Niederwendung“ und wird heute allgemein für folgenschwere Unglücksfälle verwendet. Vom Urknall[1] bis zur Corona-Krise[2] ist die „Verheerung“, so das altdeutsche Wort für Katastrophe, also ein ständiger Begleiter allen Entstehen und Vergehens. Adam McKay’s – am Weihnachtstag in Netflix veröffentlichten – Film, nimmt sich einem Katastrophenfall an und fragt danach, wie wir als Menschheit damit umgehen. „Don’t Look Up“ weiterlesen

Kodachrome

Jahr: 2017 |Regie: Mark Raso| Road-Movie | 100 min

Vielleicht kennen Sie das? Sie schauen auf eine Liste, deren Anlegen ihnen irgendwie vertraut vorkommt und deren Existenz ihnen klar ist, aber nicht mehr deren festgelegte Inhalte. So geschehen auf meiner Netflix Liste!
Da fand sich „Kodachrome“, ein Film über einen Musiklabelmanager, der seinen todkranken Vater auf einer Reise zur Entwicklung eines Fotofilmes begleiten soll. Musik, Fotografie, gute Schauspieler, Hauptdarsteller in deinem Alter und scheinbar jung geblieben, könnte passen! Sie schauen die ersten Minuten und stellen fest, dass sie irgendwann schon einmal diese ersten Minuten gesehen haben. Sie fragen sich, warum ab ich den Film nicht zu Ende geschaut? Nach wenigen, weiteren Augenblicken stellen Sie fest; „Ahh, deshalb; der Film ist einfach schlecht!“ Jetzt kommt aber die eigentliche Überraschung, sie schalten einfach nicht aus! Sie geben dem Film eine zweite Chance! „Kodachrome“ weiterlesen

Hartmut Rosa – Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen

In unserer kleinen Reihe „our pathetic age“, welche sich den Ideen und Beschreibungen unserer Gegenwart widmet, soll als nächstes eines der wirkmächtigsten Soziologiewerke der letzten Jahre vorgestellt werden, Hartmut Rosas „Resonanz“.

Wie im Einleitungsbeitrag zu „our pathetic age“ geschrieben wurde, soll diese Kategorie einen kritischen Blick auf die Zustände des Lebens in der Jetztzeit liefern. Einführend möchte ich aber einen kleinen Blick auf den Begriff „kritisch“ werfen. Ich selbst versuche dieses Wort mit einer gewissen Doppeldeutigkeit zu benutzen, zum einen als Bemühen hinter das Offensichtliche zu gelangen, Fragen zu stellen, warum es so ist, wie es sich darstellt, aber auch im Versuch die eigene Perspektive immer wieder zu justieren. Dabei ist natürlich impliziert, dass die Zustände, so wie sie sich zeigen, niemals ideal sind und immer einen Anlass zur Verbesserung geben (wobei man auch diese Bemerkung durchaus kritisch hinterfragen könnte!). Zum anderen schwebt mit diesem Begriff auch eine gewisse Ironie (bei mir) mit, wenn sie so wollen ein Spiel, die eigene Kritik der Weltzustände als fluide, als „work-in-progress“, als diskutabel zu bezeichnen. Genau das soll in „our pathetic age“ erreicht werden, der Versuch unsere Gegenwart zu beleuchten, aber mit der Einsicht, dass auch dieser Belichtungsvorgang – ganz wie der Besuch im Keller mit einer Taschenlampe – von einem Ort ausgeht, von dem man sich wegbewegen kann und mit einer Lichtstärke, die mehr über die Kapazitäten des Haltenden der Lampe aussagt, als über die Möglichkeiten der Beleuchtung. Aber vielleicht finden sich im Keller der Erleuchtung neue, stärkere Batterien, oder gar eine Stehlampe? „Hartmut Rosa – Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen“ weiterlesen

The Power of the Dog

Jahr: 2021 | Regie & Drehbuch: Jane Campion (nach einem Roman von Thomas Savage) | Western-Drama | Länge: 128min | Location: Montana in den 1920ern (gefilmt jedoch in Neuseeland!)

Die beiden ungleichen Brüder Phil (Benedict Cumberbatch) und George Burbank (Jesse Plemons) betreiben eine Farm in Montana. Beim Viehtrieb rasten sie bei der Gasthausbetreiberin Rose (Kirsten Dunst) und ihrem androgyn wirkenden Sohn Peter (Kodi Smith-McPhee), dessen Interessen weitestmöglich von denen von Cowboys entfernt zu liegen scheinen. Während der ruhige und etwas plump wirkende George, sich von Rose angezogen fühlt, ist es der raue und machomäßige Phil, der sich über Peter lustig macht, auch um das Klischee des starken Cowboys-Manns vor seinen Angestellten bestätigt zu sehen. „The Power of the Dog“ weiterlesen