Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten

Originaltitel: „Bardo, falsa crónica de unas cuantas verdades“ | Jahr: 2022 | Drehbuch & Regie: Alejandro G. Iñárritu (Drehbuch mit: Nicolás Giacobone) | Spielfilm | 159min (Kinofassung: 174min) | Location: Mexiko

Es gibt Länder auf dieser Welt, die haben mich bisher nicht abgeholt, so dass ich keine Versuchung sah, dorthin zu reisen, oder – um einen Anfang zu machen – mich etwas näher mit ihnen zu beschäftigen. Mexiko gehörte in meinen Erinnerungen genau zu diesem Typ von Regionen unseres Planeten. Das hat sich in den letzten Monaten geändert. Ich bemerke, dass ich empfänglicher oder aufmerksamer bin, wenn vom größten Land Zentralamerikas die Rede ist. Dazu wird sicherlich Roberto Bolaños Roman „2666“ einen Teil beigetragen haben. Als ich neulich „Anfänge“, ein sozialwissenschaftliches Buch von David Graeber und David Wengrow[1] las, fiel meine Aufmerksamkeit auf eine interessante Interpretation der aztekischen Kultur. Nun sah ich „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ des mexikanischen Regisseurs Alejandro G. Iñárritu und ich komme nicht umhin zuzugeben, dass ich Mexiko zunehmend spannend finde. Das hat auch damit zu tun, dass Iñárritu mit diesem Film eine Art Liebeserklärung an sein Land richtet,[2] und ich diese Hommage sehr sympathisch finde. „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ weiterlesen

Der denkwürdige Fall des Mister Poe

Originaltitel: „The Pale Blue Eye“ | Jahr: 2022 | Regie & Drehbuch: Scott Cooper (basierend auf dem gleichnamigen Roman von Louis Bayard) | Krimi | 128min | Location: Militärakademie West Point in den 1830er Jahren

Augustus Landor (Christian Bale) war einst ein begnadeter Ermittler, hat sich aber nach dem Tod seiner Frau und dem Verschwinden seiner Tochter zurückgezogen und lebt einsam in einer Hütte im Hudson Valley. Ein Mordfall in der Militärakademie West Point lässt die dortigen Befehlshaber Superintendent Thayer (Timothy Spall) und Captain Hitchcock (Simon Mc Burney) auf Landor zurückgreifen, denn ungeheuerliches ist passiert. Der junge Kadett Fry (Stephen Mayer) hat sich erhängt, oder wurde ermordet, denn man hat ihm sein Herz entfernt und gestohlen. Landor erfährt in seiner Stammtaverne, in welcher er auch Anschluss bei der Kellnerin Patsy (Charlotte Gainsbourg) findet, von einem jungen Mann, der nicht nur ein begnadeter Dichter zu sein scheint, sondern auch große detektivische Begabung hat; Edgar Allen Poe (Harry Melling). „Der denkwürdige Fall des Mister Poe“ weiterlesen

Die nackte Kanone

Originaltitel: „The Naked Gun“ | Jahr: 1988 | Regie: David Zucker | Drehbuch: ZAZ (Jerry Zucker, Jim Abrahams, David Zucker) | Slapstick-Komödie | 81min

Die von mir gelegentlich besuchte kleine Filmakademie im Kraftwerk Mitte bot diesen Januar einen Kurs an, der sehr verheißungsvoll klang, „In Trash We Trust“, verbunden mit der Vorführung des von mir seit Teenager-Jahren hochgeschätzten Komödienhighlights, „Die nackte Kanone“. Es sollte ein kurzweiliger, aber nicht unbedingt informativer Abend werden, der mir nicht wirklich erhellte, was einen Trashfilm ausmacht bzw. wo genau die Abgrenzung zu anderen Genres liegt. Die beiden Vortragenden der Akademie begannen ihren Abend damit festzustellen, dass sie einer Einordnung oder Abgrenzung definitorisch nicht liefern können und boten dem Auditorium stattdessen eine interaktive Trash-Filmquiz Runde an, im Format von Jeopardy. Als eitler Autor dieser Zeilen gebe ich zu, verleitet gewesen zu sein, aus dem zahlreich vorhandenen Publikum herauszutreten und mich an einen der drei, extra herangeschafften, Quizbuzzer zu begeben und ich kann mich nur bei meiner Schüchternheit bedanken, dies nicht getan zu haben, denn alle drei mehr oder weniger langsam hervortretenden Kandidaten, waren weitaus gebildetere Filmkenner (mindestens des Trash-Genres, höchstwahrscheinlich aber über den diffusen Filmbereich hinausgehend) und errieten jede Menge Filmtitel von deren Existenz ich nur marginal, vom Hören-Sagen, oder gar keine Ahnung hatte.
Trotz des sehr unterhaltsamen Abends gebe ich zu, minimal enttäuscht gewesen zu sein,[1] denn in mir wuchs die Frage, was eigentlich Trash-Filme ausmachen. Die Hinweise, dass diese entweder über ein geringes Budget verfügen oder bewusst eine schlechte Optik, Handlung, schauspielerische Leistung oder ähnliches besitzen, oder andere Filme bzw. gesellschaftliche Zustände parodieren, hilft da nicht weiter, denn dann wird die Subsumierung des Gegenstandes recht schnell beliebig und ich war etwas überrascht, Filme wie „Das Leben des Brain“[2] oder „Big Lebowski“[3] an einem Trash-Film-Abend präsentiert zu bekommen. „Die nackte Kanone“ weiterlesen

Javier Marías – Berta Isla

Erschien 2017 im spanischen Original | deutsche Übersetzung von Susanne Lange 2019 bei S.Fischer | 656 Seiten

Unter den zahlreichen Toten des Jahres 2022 waren traurigerweise auch Persönlichkeiten zu beklagen, deren Werk und Schaffen ein großer Gewinn für unsere Welt war. In dieser Aufzählung ist klar der spanische Autor Javier Marías zu nennen, der im Herbst des letzten Jahres verstarb, viel zu früh und nur wenige Tage vor seinem 71. Geburtstag. Im wundervollen FAZ-Bücherpodcast mit Paul Ingendaay[1], der sich eigentlich der Frankfurter Buchmesse und dem letztjährigen Gastland Spanien widmete, waren einige Minuten dem großen Madrilenen gewidmet, von dessen Romanen ich eine ganze Weile schwer begeistert war und der eher unabsichtlich in den letzten Jahren etwas aus meinem Blickfeld herausgetreten ist. Sein Ableben veranlasste mich, einer gewissen Logik des Büchermarkts und seiner Konsumenten folgend, ein Werk von ihm zu lesen und da besonders seine beiden neusten und leider auch letzten Romane prominent an manchmal dafür sogar hergerichteten Büchertischen vertreten waren, viel meine Wahl auf „Berta Isla“ ein Roman, der schon mit seinem wunderschönen Cover anspricht.

An dieser Stelle über den Inhalt des Romans zu schreiben ist nicht unproblematisch, denn Javier Marías Bücher bestechen im Regelfall nicht mit einem Handlungsfeuerwerk, was keinesfalls als Kritik zu lesen ist. Ihre Qualität erreichen seine Texte mit dem Ausleuchten der Situationen ihrer Figuren. Diese durchleben daher erst im Laufe der Handlung die ein oder andere Wendung und ich befürchte dem noch nicht mit dem Text vertrauten Leser zu viel zu verraten, so wie der Klappentext meiner Ausgabe, der tatsächlich die erste Hälfte des Buches zusammenfasst.[2] Allerdings wäre es sehr schade nur verkürzt über den Roman sprechen zu können, weshalb an dieser Stelle eine SPOILER-Warnung steht.[3]

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The Meyerowitz Stories (New and Selected)

Jahr: 2017 | Regie & Drehbuch: Noah Baumbach | Tragikomödie | 110min | Location: New York

Zur Recherche über den Film „Weißes Rauschen“ suchte ich die Filmografie von Noah Baumbach ab. Da fand sich neben „Frances Ha“ oder „Marriage Story“, die ich beide schon sah und überzeugend fand, auch eine ganze Reihe weiterer Filme. Das übermächtige Netflix erinnerte mich gar daran, dass Baumbachs 2017er Werk „The Meyerowitz Stories (New and Selected)“ auf meiner Watch-List steht. Wenn das keine Play-Aufforderung ist! „The Meyerowitz Stories (New and Selected)“ weiterlesen

Weißes Rauschen

Originaltitel: „White Noise“ | Jahr: 2022 | Regie & Drehbuch: Noah Baumbach | Drama | 136min

Das Studium der Soziologie, gerade in den frühen 2000er Jahren, war keines was direkt in lukrative Arbeitsverhältnisse mündete. Das war und ist aber überhaupt nicht schlimm, denn ein von mir wahrgenommenes großes Plus dieses mehrjährigen Vorgangs des Lernens (bei gleichzeitig größtmöglicher öffentlicher Spreizung der Bekanntgabe des neugelernten Stoffes und der dazugehörenden Fremdwörter), ist das Kennen- und Schätzenlernen von Themen, die (mir) vielleicht sonst gar nicht bewusst geworden wären. So bin ich über eine nähere Auseinandersetzung mit der Postmoderne[1] zu Don DeLillos Roman „Weißes Rauschen“ gekommen. Ich war damals in meinen frühen 20ern und schwer begeistert vom Roman, der bereits 1984 im englischen Original erschien und der alsbald zu meinem Lieblingsroman avancierte.[2]
Noah Baumbach bekam 2021 einen nicht ganz kleinen Geldbetrag von netflix, damit er diesen Roman verfilmen konnte und das Resultat kann man sich mittlerweile beim Streaminganbieter ansehen. „Weißes Rauschen“ weiterlesen

The Gentlemen

Jahr: 2019 | Regie & Drehbuch: Guy Ritchie | Action – Gaunerkomödie | 115min

Der Amerikaner Mickey Pearson (Matthew McConaughey) hat sich in Großbritannien zu einem Marihuana Drogenboss hochgearbeitet, wobei er sich nicht scheute, blutige Finger zu machen. Nun möchte er sein blühendes Geschäft an den gleichfalls amerikanischen Businessman Matthew Berger (Jeremy Strong) verkaufen, da er sich gemeinsam mit seiner Frau Rosalind (Michelle Dockery) zur Ruhe setzen möchte. Doch dieser Deal verläuft nicht reibungslos, wie der etwas schmierige Privatdetektiv Fletcher (Hugh Grant) herausfindet und mit seinem Wissen die rechte Hand von Pearson Raymond Smith (Charlie Hunnam) um etwas Geld erpressen möchte. Flechter macht deutlich, dass Zeitungsherausgeber Big Dave (Eddie Marsan) einen Groll auf Pearson hegt und eine schmutzige Geschichte veröffentlichen möchte. Und diese Geschichte ist tatsächlich unschön, denn Pearsons geheime Marihuana Produktionseinheiten wurden von Dry Eye (Henry Golding), einem Unterboss der chinesischen Mafia, aufgespürt und von einer Gruppe Kleinkrimineller niedergemacht. Diese Gruppe wiederum gehört zum Coach (Colin Farrell), der aber nicht glücklich darüber ist, seine Jungs beim Ausüben von kriminellen Akten gegenüber Pearson wieder zu finden und Smith Wiedergutmachung anbietet. „The Gentlemen“ weiterlesen

Der tommr.de Jahresrückblick 2022

2022 ist Geschichte und wie immer, wenn ein Jahr endet möchte ich kurz die Highlights des Jahres in Film, Serien und Buchform wiedergeben, die ich auf tommr.de niederschreiben konnte. Wie es der geneigte Leser dieses Blogs vielleicht bereits gewohnt ist, sollte man meine spleenige Absicht zum Herausstellen von Bestenlisten nicht überbewerten. „Der tommr.de Jahresrückblick 2022“ weiterlesen

Anna Seghers – Transit

aus der Reihe: „aus fremden Regalen

Erschien 1944 in englischer und spanischer Übersetzung und 1947 erstmals im Original auf Deutsch (in der Berliner Zeitung) | hier vorliegend in der Ausgabe des Aufbau Verlages 1985

Seit ich Christian Petzolds Film „Transit“ sah, nahm ich mir vor, irgendwann einmal die Romanvorlage von Anna Seghers zu lesen. Diese fand sich in der Bibliothek meiner Eltern. Ich zupfte mir das Buch aus dem für meine Verhältnisse ungeordneten Büchermeer heraus und beendete mit der Lektüre des Romans das Bücherjahr 2022.

Der Ich-Erzähler namens Seidler sitzt in einem Café in Marseille und erzählt dem Leser seine Geschichte, die mit dem Untergang eines Schiffes beginnt, auf welchem Seidler jedoch nicht Passagier war (und welches tatsächlich das Ende der chronologischen Handlung des Romans darstellt). Wir sind im 2.Weltkrieg und Seidlers letzte Zeit handelt davon, dass er aus Nazi-Deutschland flüchten musste und in Frankreich sein Heil sucht. Doch das Land wird von den Deutschen erobert und die Hauptstadt Paris ist besetzt. Dort übernimmt er einen Auftrag für einen Freund und bringt einen Brief zum Schriftsteller Weidel. Dessen Wirtin erklärt Seidler, dass Weidel sich umgebracht habe und sie seine sterblichen Überreste ohne viel Aufhebens entsorgt hat, weil sie Angst vor den Behörden hat, es sind halt komplizierte Zeiten. Einzig ein Koffer sei geblieben, welche sie Seidler übergibt. Dieser Koffer ändert für Seidler viel und er gelangt letztendlich nach Marseille, wo er durch die Papiere Weidels, die im Koffer lagen, eine Chance auf ein Visa und eine Ausreise aus Europa hat. In Marseille, dass noch von Franzosen verwaltet wird, scharren sich viele Flüchtlinge, um den Kontinent zu verlassen. Hier lernt Seidler auch einen deutschen Arzt kennen und später dessen Freundin Marie, welche ihm schon vorher als betörende und geheimnisvolle Fremde aufgefallen war, die durch die Cafés der Stadt eilt, um dort jemanden zu finden. „Anna Seghers – Transit“ weiterlesen

Roberto Bolaño – 2666

Erschien (posthum) 2004 bei Editorial Anagrama | auf Deutsch übersetzt von Christian Hansen 2009 bei Hanser und als Taschenbuch 2011 bei Fischer Taschenbuch erschienen | 1.200 Seiten (in der hier vorliegenden Taschenbuchausgabe)

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht am besten beim Autor. Der Name Roberto Bolaño schwirrte mir schon seit einiger Zeit durch den Kopf, aber woher dieses cerebrale Schwirren kam, ob aus einer Richtung Borges, oder vielleicht Mitchell, ist mir unklar. Vielleicht auch aus einem anderen Kontext heraus, der mir nicht mehr erinnerlich ist. Eines Abends jedoch, schrieb ich eine kontemplierte ich über einer neuen Leseliste und auf dieser sollte sich der Name Bolaño wiederfinden. Nach kurzer Recherche konnte ich „2666“ als sein Hauptwerk identifizieren. Warum ich auf das bekanntesten oder renommierteste Buch ziele, ist mir ebenfalls nicht ganz klar (ich könnte ebenfalls chronologisch vorgehen, aber vielleicht hege ich hier Zweifel dass der früheste Text nicht ganz ausgereift sein könnte), jedenfalls lag im Herbst des Jahres das gleichzeitig längste Buch von Bolaño in meinem Bücherregal und an einem weiteren Abend, diesmal im November – ich beendete gerade Thomes Roman „Grenzgang“ – nahm ich den über 1.000 Seiten starken Band in die Hände, um mal reinzulesen in „2666“. Tatsächlich ließ mich das Buch nicht mehr los und es ist wohl der Welzer (also ein Buch mit über 1.000 Seiten), den ich am schnellsten in meinem Leben verschlang. „Roberto Bolaño – 2666“ weiterlesen